Orphischer Gesang II für Streichsextett | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Volker David Kirchner

Orphischer Gesang II für Streichsextett

ORPHISCHER GESANG II für Streichsextett (Martin Ostertag gewidmet)

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 3009

Satzbezeichnungen

Erläuterungen

Der griechische Sänger und Halbgott Orpheus, der mit seiner Leier und seinem Gesang die Tiere zähmte und den Tod besiegte, steht als Mythos am Anfang der europäischen Musik. Noch unsere Streicher eifern ihm nach, wenn sie den Bogen ansetzen, um das Publikum zu bezaubern, oder, wie es bei Rilke zum Untergang des Orpheus im Tribunal der Mänaden heißt: “Nur weil dich reißend zuletzt die Feindschaft verteilte / sind wir die Hörenden jetzt…”.

Volker David Kirchner ist wie sein Held Orpheus ein Sänger des Mythos. Sein neuestes großes Bühnenwerk, die monumentale Oper Gilgamesh, die am 20.5. im Zuge der Vorbereitungen zur EXPO in Hannover uraufgeführt wird, ist eine ebenso archaisch-kraftvolle wie modern-bühnengerechte Umsetzung des mythologischen Stoffes. Ähnliche Qualitäten zeigen Kirchners Auseinandersetzungen mit Orpheus, der für ihn Sinnbild des Musikers, der Musik in der Welt ist.

Kirchner hat den Archetyp Orpheus zuerst in der Form von Streicherkammermusik “besungen”. Sein erstes Streichsextett von 1976 nannte er Orphischen Gesang. 1998 ließ er ihm ein zweites mit dem Titel Orphischer Gesang II folgen, ein Auftragswerk der Villa Musica und ihrem Stammcellisten Martin Ostertag gewidmet. In einer Musikepoche, die es Jahrzehnte lang tunlichst vermied, auch nur ein Instrument “singen” zu lassen, ist ein Orphischer Gesang für die romantische Streichsextett-Besetzung beinahe eine Rückentartung. Als einer der besten deutschen Bratscher seiner Generation und langjähriger Quartettmusiker hat Kirchner jedoch ein ganz ungebrochenes, ja intimes Verhältnis zur Streicherkammermusik, die er durchaus auch in ihren klassischen Besetzungen pflegt. Vom 1. Streichquartett (1983), das er noch heute zu seinen besten Werken rechnet, bis zum Orphischen Gesang II verstand er es, den Streicherklang nicht nur idiomatisch, sondern auch atmosphärisch auszukosten. Bei ihm eröffnen sich Klangräume, die manche Spieler nach Jahrzehnten avantgardistischer Kasteiung durchaus als Befreiung erlebt haben dürften.

Auch für die Bläser entwickelte der langjährige Orchestermusiker Kirchner ein untrügliches Gespür, etwa für das Horn, dem er einige moderne Pflichtstücke auf den Leib geschrieben hat, wie etwa die drei instrumentalen Intermezzi seines Orfeo-Zyklus. Die Fähigkeit, suggestive Klangbilder, oft auch Klangcollagen zu schreiben, rückt Kirchner in die Nähe seines Vorbilds Gustav Mahler, den er gerne, so auch im Orfeo zitiert hat. Das Eintauchen in tief persönliche Gefühls- und Gedankenwelten, die sich hier inniger als auf der Opernbühne, aber nicht weniger dramatisch im Duktus mitteilen, verbindet sich bei ihm stets mit dem musikhistorischen Rückbezug, häufig in Form von Zitaten, die in seine Sprache eingehen.

Orphischer Gesang II, 1998 vollendet, 1999 bereits auf CD eingespielt, aber erst im heutigen Konzert öffentlich uraufgeführt, beruht auf einem vom Komponisten verfassten Motto, das man durchaus in der Nachfolge der Rilke-Sonette sehen kann. In seiner Gedichtstrophe deutet Kirchner den mythischen Sänger Orpheus als einen resignierten, dem Leben müde und gealtert gegenüberstehenden Künstler: “Auf alt gewordenen Bächen treibend, / und auch im Anderen das ewig Gleiche suchend, / müde geworden vom ewigen Umkehrverbot, / singst du noch immer mit wunder Stimme / deinen wehen Gesang.”

Besser wäre die Atmosphäre dieses “wehen Gesangs” für sechs Streichinstrumente nicht zu umschreiben. Mit “wunder Stimme” anhebend und in ihr versterbend, kreist das Stück um Sekundmotive, die wie orientalische Klagelaute anmuten. Sie werden anfangs zaghaft, dann mit immer bohrenderer Intensität wiederholt – das “ewige Umkehrverbot” gestattet keine motivische Arbeit. Erst im Frenetico-Mittelteil bricht sich die angestaute Spannung Bahn, werden die engschrittigen, passiven Gesten des Beginns zu auf- und absteigenden chromatischen Skalen erweitert und durch perkussive Klänge in den Celli aufgeraut. Das von Mahler entlehnte Prinzip der zusammenbrechenden Klimax führt zunächst zu einem Lento-Einschub con sordino, einer Art Traumbild, dann zur Reprise der wilden Sechzehntelfiguren, zum Furioso gesteigert. Nachdem sich die Spannung ein zweites Mal in klanglich wunderbar aufgefächerter Triolenbewegung gelöst hat, schließt das Stück mit dem Zitat des Klagemotivs.