Ipecacunha | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Karl-Josef Müller

Ipecacunha

Ipecacunha Quintett für Klarinette in B, Violine, Viola, Violoncello und Klavier (1997/98)

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 3004

Satzbezeichnungen

Erläuterungen

“Die Komposition ist Robert Schumann und seinem unsäglichen Leiden in Endenich gewidmett. Ipecacunha – so der Name des Medikaments, mit dem Schumanns unruhiger Geist in der Endenicher Anstalt ‘ruhiggestellt’ wurde – ist ein kompositorischer Reflex auf Schumanns Gesänge der Frühe, op. 133, das letzte Klavierwerk vor seiner Einlieferung in Endenich. Das gesamte Material meiner Komposition beruht auf diesen Stücken, von denen Peter Härtling in seinem Roman Schumanns Schatten sagt: ‘Auf einem anarchischen Grund wiederholen sich nach eigenen, neuen Regeln die Signale des Aufbruchs, die zugleich die des Abschieds sind.’ Aufbruch und Abschied, verzweifelter Versuch des Beginnens und resignierende Ohnmacht sind Thema meiner Komposition, über deren Schluß sich wie ein Schatten ein Motiv aus dem Klarinettenquintett von Johannes Brahms legt.” (K.-J. Müller)

Das Quintett Ipecacunha wurde 1997/98 im Auftrag der Villa Musica komponiert. Seine Besetzung mit Klarinette, Klavier und Streichern knüpft an ähnlich besetzte Werke dieses Jahrhunderts an (Paul Hindemiths Quartett für Klarinette, Violine, Cello und Klavier, Hans Pfitzners Sextett). Der programmatische Bezug auf die tragischen Ereignisse um Robert Schumanns letzte Lebensjahre –
der Komponist wurde nach einem Selbstmordversuch in die Nervenheilanstalt Endenich bei Bonn eingeliefert, wo er von 1854 bis zu seinem Tod 1856 als psychisch Kranker behandelt wurde – verbindet Müllers Quintett mit einer ganzen Reihe prominenter Werke seit den frühen 70er Jahren, denn die Gestalt des in seine akustischen Wahnvorstellungen verstrickten Romantikers hat moderne Komponisten immer wieder herausgefordert, wie etwa Wilhelm Killmayer und Volker David Kirchner.

Karl-Josef Müller knüpfte nicht unmittelbar an die Geschehnisse in Endenich an, sondern an deren literarische Verarbeitung in Peter Härtlings Schumann-Roman. Diesem entnahm er einige Schlüsselstellen und setzte sie mottoartig über die Abschnitte seines Quintetts. Obwohl der Komponist im Vorwort zur Partitur betont, daß diese Zitate keineswegs als “Gegenstände der Komposition” zu verstehen seien, erklärt sich aus ihnen doch die formale Anlage des Werkes.

Es bildet einen einzigen, reich gegliederten Satz, in dem man ungefähr vier Hauptabschnitte unterscheiden kann. Der einleitende Teil trägt rhapsodische Züge: über leisen Flageolett- und Glissando-Klängen der Streicher spielt die Klarinette lang ausgehaltene Töne im Wechsel mit arabesken Figuren. Eine zweimal eingeschaltete akkordische Stelle (“Er hört, wie sie über ihn reden, ihn redend drehen…”) leitet über zum zweiten Abschnitt, der von Streichertremoli und aufgeregten Sechzehntelfiguren der Klarinette geprägt wird (“Die Geräusche im Ohr nehmen zu. Das summt und schreit…”).

In den dritten Abschnitt, eine Art Adagio mit langen Akkorden (“Selbst die Nähe des Freundes löst seine Zunge nicht vom Gaumen. Sie bleibt schwer…”), ist eine Tanzepisode eingeschaltet. Das Quasi-Finale beginnt mit dem für Schumann so charakteristischen Galopp-Rhythmus im 9/8-Takt, der rondoartig wiederkehrt. Dazwischen sind Episoden in anderen Taktarten (4/4 und 2/4) und Zitate aus den früheren Abschnitten eingestreut. Die resignierte Coda zitiert, wie oben vom Komponisten erwähnt, eine Stelle aus dem Adagio des Klarinettenquintetts von Brahms.

Noch ein Wort zum Komponisten: Karl-Josef Müller ist Professor an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt/Main und an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Neben seinen Kompositionen, die bisher außer der Oper alle Gattungen umfassen, hat er zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten vor allem über Musik des 20. Jahrhunderts veröffentlicht, unter denen seine Mahler-Biographie (1984) am bekanntesten wurde. Zahlreiche seiner Werke sind in Mainz uraufgeführt worden, so u.a. Portrait mit Ives für großes Orchester, ein Auftragswerk des Landes Rheinland-Pfalz, 1995 in der Rheingoldhalle und 1993 im Fachbereich Musik der Liederzyklus Abschied und kühles Verwehen auf expressionistische Gedichte von Wilhelm Klemm.