Quartett Nr. 6 für 2 Violinen, Viola und Violoncello (2000)
Werkverzeichnisnummer: 3001
I Die Prosperoformel
Misurato con impeto -Tranquillo da lontano
II Ariels Luftgesang
Lento, ma corrente
III Calibans Erdgesang
Pesante – Agitato
IV Prosperos Wendung
Adagissimo – Lento, ma corrente
2002
VOLKER DAVID KIRCHNER
Streichquartett Nr. 6 (2000)
Die Gestalten William Shakespeares haben Komponisten von jeher fasziniert, nicht nur auf der Opernbühne und im Lied. Schon in Purcells Fairy Queen von 1693 wird der Versuch spürbar, den Zauber des Sommernachtstraums mit rein instrumentalen Mitteln musikalisch einzufangen. Zur Mozartzeit setzte sich dieses Bemühen in Schauspielmusiken für Orchester fort (etwa Voglers Hamlet). Daraus entsprangen die Sinfonischen Dichtungen und Ouvertüren über Shakespeare-Dramen aus der Romantik (Schumanns Julius Caesar, Liszts Hamlet, Tschaikowskys Romeo und Julia u.a.). Im 20. Jahrhundert waren es vor allem Ballettmusiken (Profofieff) und kleinere Instrumentalzyklen wie Henzes Royal Winter Music, die Shakespeares Charaktere nur in Tönen nachzuzeichnen versuchten.
Volker David Kirchners 6. Streichquartett ist ein solcher Shakespeare-Zyklus. Es entstand 2000 und ist den Gestalten des Sturms verpflichtet. Der Zauberer Prospero und seine dienstbaren Geister Ariel und Caliban bestimmen die Dramaturgie der vier Sätze. Zwischen den mittleren – Ariels Luftgesang und Calibans Erdgesang – ergibt sich eine einfache Antithese, die Ecksätze zeigen den Zauberer, wie er seine Macht benutzt und wie er auf sie verzichtet. Der erste Satz enthält dabei mit der Prosperoformel gewissermßaen die Zauberformel für das ganze Stück: die allen Sätzen zugrundeliegende Reihe. Das Finale ist wie so oft bei Kirchner ein Adagio des Abschieds und der Isolation. Es bezeichnet die Wendung des mächtigen Zauberers zur Entsagung.
Zu den Sätzen im einzelnen schrieb der Komponist: 1. Satz, Die Prosperoformel (Misurato con impeto – Gemessen, mit Impetus). „Die Prosperoformel ist eine Reihe aus zweimal sechs Tönen, also eine in zwei Teile zerlegte zwölftönige Reihe. Die beiden Teile der Reihe laufen in Krebsgängen und Spiegelungen durch den ganzen Satz wie majestätische Beschwörungsformeln. Abspaltungen, Dehnungen, Verdichtungen bestimmen den äußeren formalen Ablauf, immer und in jedem Moment auf die Ausgangsformel bezogen. Auch in den Klangfarben gibt es eine unverrückbare Anordnung. Die Palette reicht vom sul ponticello über pizzicato und col legno battuto bis hin zur extremsten Verfremdung des Klangs hinter dem Steg (dietro il ponticello). Einen Satz von so bösartiger Konsequenz habe ich selten geschrieben.“
2. Satz, Ariels Luftgesang (Lento, ma corrente – Langsam, aber fließend): „Der Ausdruck ‚Luftgesang‘ ist im doppelten Sinne zu verstehen: als frei schwebende Bewegung in der Luft und als Klang, dessen Bestimmung ständig an der Grenze zur Stille verläuft, sich sozusagen in Luft auflöst. In die eine Richtung deuten die schwebenden Bewegungen im Flautando der zweiten Violine, in die andere die Klangfarbenschweller und Flageoletts. Alle Intervalle beruhen auf der Prosperoformel, denn die Geister Prosperos sind natürlich seine: der Luftgeist und der Erdgeist.“
3. Satz, Calibans Erdgesang (Pesante – Schwer): „Der Satz beruht auf der Symbolik des Tons G als Ton der Erde: schwer lastende Akzente und heftige Wiederholungen, die den Ton immer wieder mit der Prosperoformel verbinden. Der ganze Satz wirkt wie eine Erschütterung der Erde, wie wenn Erde aufbricht.“
4. Satz, Prosperos Wendung (Adagissimo): „Erst im Verlaufe dieses letzten Satzes löst sich die strenge Reihung der ersten drei Sätze in frei schwingenden Naturlaut. Zu Beginn wiederholt Prospero seine Formel (Violine I), darauf antwortet das Cello mit dem Krebs der Reihe. Doch im Verlaufe des Satzes lösen sich die Instrumente aus dem Schatten der Formel und gehen in Vogelgesang über. Es ist ein wehmütiger Schluss, der zeigt: Prospero strebt die Macht an, er benutzt sie und legt sie am Ende ab, aus Einsicht.“ (Kirchner)