„Peter und der Wolf“. Ein musikalisches Märchen, op. 67, Besetzung für Kammerensemble
Werkverzeichnisnummer: 2968
Der Held des wohl berühmtesten Musikmärchens für Kinder heißt im russischen Original nicht einfach Peter, sondern „Pionier Peter“: er ist Mitglied im kommunistischen Jugendverband der Sowjetunion. Der Mut, den unser kleiner Held an den Tag legt, ist Zeichen seiner reifen Gesinnung im Sinne der sowjetischen Ideologie – wie anders im stalinistischen Russland der 1930er-Jahre?
Abgesehen von diesem Tribut an den ideologischen Überbau ist Peter und der Wolf ein erfrischend unbefangenes Musikmärchen. Es unterscheidet sich wesentlich vom „Mainstream“ ideologisch bestimmter Kindermusik, wie sie in der Sowjetunion seinerzeit produziert wurde – Prokofieffs eigene, spätere Beiträge zu dem Genre eingeschlossen. Man vergleiche nur seine Pioniersuite Lagerfeuer im Winter von 1949/50 oder jenes Kinderlied, das er im Auftrag des Volkskommissars für die Lebensmittelindustrie komponierte, damit es auf Verpackungen von Süßigkeiten seinen propagandistischen Zweck erfüllte! Peter und der Wolf entstand noch vor diesen „systemgerechten Kompositionen, die sich dem ideologischen Alltag der Sowjetunion unter Stalin und Shdanow anpassten – später zumal unter dem Eindruck der allgemeinen patriotischen Welle während des 2. Weltkrieges“ (Christoph Rueger). In den 1930er-Jahren war das künstlerische Milieu noch freier und experimentierfreudiger.
Musiktheater für Kinder stand damals von Staats wegen ganz oben; die moderne Medienkultur rund um das Kind hat hier eine ihrer Wurzeln. Am 2. Mai 1936 wurde am Swerdlow-Platz in Moskau ein neues Zentrales Kindertheater eröffnet. Seine Leiterin Natalia Saz war Prokofieff schon seit dem Vorjahr bekannt. Nun bat sie ihn um eine „einprägsame Fabel“, die die Kinder mit den Instrumenten des Sinfonieorchesters vertraut machen sollte. Prokofieff bot an, auch den Text zu dem Märchen zu schreiben, denn seit seinem Frühwerk Das hässliche Entlein nach Andersen nahmen Kinder- und Märchenstoffe in seinem Schaffen breiten Raum ein. Sein berühmtestes derartiges Musikmärchen, Die Liebe zu den drei Orangen, war in Russland so populär, dass ein russisches Mädchen von Prokofieff nach der ersten Begegnung sagte: „Er sieht aus wie die vierte seiner Drei Orangen!“ Der Komponist nahm’s gelassen.
Inspiriert von solcher Popularität unter den kleinen Besuchern des Theaters, gelangen Prokofieff Text und Musik von Peter und der Wolf ohne große Mühe. Entscheidend für den Welterfolg des Werkes war das pädagogische Konzept, das Komponist und Intendantin gemeinsam entwickelten: „Wir kamen zu dem Ergebnis, dass Charaktere gefunden werden müssten, die leicht mit dem Klang der verschiedenen Musikinstrumente zu assoziieren waren“, so Nathalia Saz zu dem Vorsatz. Die Flöte machte den naheliegenden Anfang: „Die Flöte als Vögelchen wird unbedingt vorkommen. Es ist nichts dabei, auf die simpelsten Vorstellungen der Kinder einzugehen. Die Hauptsache ist, eine gemeinsame Sprache mit ihnen zu finden“, meinte Prokofieff zu der einmal gefundenen ästhetischen Gleichung. „Ja ,wir müssen vom Konkreten ausgehen, vom Gegensätzlichen und Beeindruckenden: Wolf – Vogel, böse – gut, groß – klein. Den unterschiedlichen Charateren müssen unterschiedliche Klangfarben entsprechen, und jede Rolle hat ihr Leitmotiv.“ So einfach ist in der Tat das Konzept des Stückes, die Klangfarbendramaturgie wirkt ebenso einleuchtend, wie die Themen einprägsam: Petja-Streicher, Flöte-Vogel, Ente-Oboe, Katze-Klarinette, Großvater-Fagott, Wolf-Hörner bekommen alle ihr charakteristisches Thema – charakteristisch im drohenden oder fröhlichen Unterton, im watschelnden oder unbekümmert schlendernden Gang, in der Dur- oder Mollharmonik. Um das Rollenspiel noch deutlicher zu machen, gab Prokofieff die Anweisung, die Leitmotive vor jeder Aufführung von den einzelnen Instrumenten spielen zu lassen, damit sie die Kinder wiedererkennen können.
Gleich bei der Uraufführung am 2. Mai 1936 im Zentralen Kindertheater führte dies zum durchschlagenden Erfolg. Ein 10jähriger schrieb an den Komponisten: „Die Musik von Petja, dem Vogel und dem Wolf hat mir sehr gefallen. Als ich sie hörte, erkannte ich alles wieder. Die Katze war schön und ging ganz leise, damit sie nicht zu hören war, sie war hinterlistig. Die Ente watschelte und war dumm. Als sie der Wolf auffraß, tat sie mir leid. Ich freute mich, als ich nachher wieder ihre Stimme hörte. Am meisten gefiel mir, wie Petja mit dem Wolf kämpfte und wie alle Instrumente spielten, nachdem er besiegt war und in den Zoo gebracht wurde.“
Das „Action-Finale“ hat die Kinder also schon Anno 1936 am meisten begeistert; es ist vergleichsweise bescheiden, gemessen am Actionpotential heutiger „Kinderkanäle“. Dennoch steht außer Frage, dass die Klassiker des Genres Kindersendung wie Die Sendung mit der Maus, Der rosarote Panter oder Sesamstraße letztlich alle auf der von Prokofieff verwendeten Gleichung beruhen:
Tier = Klangfarbe + Leitmotiv
Noch ein Wort zur Fassung: Natürlich wird Peter und der Wolf in unserem Konzert nicht in der originalen Orchesterfassung aufgeführt. Die originale Klangfarbendramaturgie kommt jedoch auch in unserer reduzierten Fassung für Kammerensemble zur Geltung. Es fehlen lediglich die Tuttiinstrumente (Trompete, Posaune, Ripienostreicher) sowie das Schlagzeug. Um die Rolle der Pauke im Kampf gegen den Wolf übernehmen zu können, hat sich „Wolfi“ Güttler etwas Besonderes einfallen lassen. Der Text liegt in den kundigen Händen von Lothar Ackva, der sich als Klassikkenner und SWR 4-Moderator hier ganz in seinem Element bewegt.