Oktett B-Dur für Klarinette, Horn, Fagott, Streichquartett und Kontrabass, op. 62
Werkverzeichnisnummer: 2946
1. Poco Adagio – Allegro non troppo
2. Intermezzo. Un poco vivace
3. Adagio molto mesto
4. Scherzo. Allegro vivace
5. Allegro moderato
VERGESSENE ROMANTIKER
Joseph Miroslav Weber und Ferdinand Thieriot? In den wenigsten Musiklexika sind ihre Namen zu finden, Kammermusikführer (außer dem alten Cobbett Guide) verzeichnen sie schon gar nicht. Moderne Notenausgaben? Fehlanzeige. Das Mithras Oktett aus Saarbrücken macht unser verehrtes Publikum mit zwei Außenseitern des Repertoires bekannt, die ihr Schattendasein neben Brahms und Dvorák nicht verdient haben.
Ferdinand Thieriot war Hamburger wie der fünf Jahre ältere Brahms und diesem freundschaftlich verbunden, Joseph Miroslav Weber gehörte fast schon zur Generation Gustav Mahlers, schrieb aber im Stil Dvoráks, mit dem man seine Werke seinerzeit auf eine Stufe stellte. Warum sie vergessen sind? Weil Thieriot unspektakulär und solide ein Leben als Dirigent und Komponist in Graz, Hamburg und Leipzig führte, nicht den Anspruch erhebend, ein zweiter Brahms zu sein, aber dessen Stil bis ans Lebensende treu verbunden. Und weil in Webers Karriere als Geiger und Kapellmeister nicht alle Blütenträume reiften. Das Mithras Oktett erzählt von den Lebenslinien dieser beiden Meister, passend zum Saisonmotto der Villa Musica: Lebenslinien.
Dass so viele Romantiker der zweiten Garde vergessen sind, ist auch eine Folge des Musikbetriebs. Die Generation von Brahms war besonders reich an Talenten, die sich im kammermusikalischen Bereich entfalteten. Zu nennen sind etwa der Grazer Heinrich von Herzogenberg, der Wormser Friedrich Gernsheim oder eben Thieriot und Weber. Bis heute interessieren sich aber nur wenige Ensembles für ihre Quartette, Quintette und größer besetzten Kammermusiken, praktisch keine Solisten für ihre Violinsonaten und Konzerte. Vermeintlich zweitrangig werden sie gegen Brahms, Dvorák und Tschaikowsky abgewertet, Makulatur für die Musikhistoriker.
Das Mithras Oktett beschreitet einen anderen Weg. Es hat in seiner Konzertkarriere immer wieder das Besondere gesucht, Werke zu Unrecht Vergessener im Konzertsal und auf CD vorgestellt. Für ihre Einspielungen mit Werken von Thieriot und Conradin Kreutzer etwa erhielten die Saarbrücker Musiker von der internationalen Fachpresse beste Noten. Auch die Septette und Oktette von Peter von Winter, Friedrich Witt, Adolphe Blanc, Max Bruch, Franz Berwald wären zu nennen. Doch zunächst zu unseren beiden Komponisten.
OKTETT B-Dur, op. 62 von Ferdinand Thieriot
Aus der Korrespondenz von Johannes Brahms gewinnt man ein recht gutes Bild von den bedeutenden Zeitgenossen des Hamburger Komponisten, zu denen auch alte Freunde aus der Hansestadt gehörten. Ferdinand Thieriot war ein Schüler von Eduard Marxsen wie Brahms, und dies alleine, die Anhänglichkeit an den alten Lehrer, genügte, um die beiden miteinander zu verbinden.
Brahms, immer bereit, Musikerfreunden zu helfen, empfahl Thieriot in seine erste wichtige Stellung als Musikdirektor des Steiermärkischen Musikvereins nach Graz. Der Wahlwiener Brahms dürfte ein wenig an die eigene Existenz in Österreich gedacht haben, als er den Hanseaten Thieriot an die Mur empfahl, zumal Thieriot mit „seiner unverwüstlichen Vergnügtheit“, wie Herzogenberg meinte, frischen Wind ins steirische Musikleben brachte.
In den 15 Jahren seiner Grazer Tätigkeit, 1870 bis 1885, wurde die steirische Hauptstadt durch ihn zur Wagner- und Brahmsstadt, und das dortige Publikum durfte einiges an Solistenprominenz unter seinem Batton erleben. 1885 freilich kehrte er dem Süden den Rücken und in die Heimat zurück, wo er abwechselnd in Hamburg und Leipzig wirkte.
Das Oktett B-Dur, op. 62, entstand in der zweiten Hamburger Periode und wurde 1893 bei Peters veröffentlicht. Es folgt in der Besetzung genau dem Vorbild des Schubert-Oktetts: Klarinette, Horn und Fagott als Bläser, dazu Streichquartett und Kontrabass. Ebenfalls auf Schubert geht die führende Rolle der ersten Geige zurück, die Thieriot dem Hamburger Konzertmeister Bargheel auf den Leib schrieb.
Dass er selbst ein fähiger Cellist war, der sich oft und gerne in Brahmswerken hören ließ, kann man u.a. am Cellosolo des Adagios erkennen. Die Bläser sind teils quasi-orchestral, teils solistisch geführt. Tremoli in den Streichern, kontrapunktische Verzahnung der Stimmen, meisterliche Registerwechsel verraten den erfahrenen Dirigenten und Sinfoniker.
Formal lehnte sich Thieriot an das Modell des Schubert-Oktetts an, ohne es zu kopieren. Auch sein Oktett beginnt mit einer langsamen Einleitung vor dem ersten Allegro, weist zwei Tanzsätze auf, die einen langsamen Satz umrahmen, und schließt mit einem tänzerischen Finale. Es fehlt lediglich der Variationensatz, der im Schubertoktett für die ausufernde Spieldauer verantwortlich ist. Thieriot beschränkte sich auf knappe 40 Minuten und schuf ein Werk, das in Form und Ton den Serenaden von Brahms vergleichbar ist.
Im solistischen Bläserbeginn mit seiner melancholisch-schönen Aura könnte man sich in die Hügel der „steirischen Toskana“ versetzt fühlen, wo Thieriot sicher seinen Schilcher getrunken hat. In pastoralem Duktus setzt das Violinthema des Allegro ein, das die Klarinette aufgreift. Es wird in großem Bogen bis zum Forte gesteigert. Eine kontrapunktische Überleitung bereitet das Seitenthema vor, in dem sich Anklänge an Mendelssohn mit Wagnerismen und einem dramatischen Molleinbruch verbinden. Cello- und Fagottsoli in der Schlussgruppe, eine gut gearbeitete Durchführung mit herrlich-gesanglichen Episoden, die Reprise verkürzt, die Coda als zweite Durchführung, in der sich der pastorale Duktus zum seligen Abgesang steigert – ein runder Satz, der nie vorgibt mehr zu sein, als er ist: ein Brahms-nahes, singend-schönes Allegro.
In diesem Ton unprätentiöser, meisterlich gearbeiteter Spätromantik sind auch die anderen Sätze gehalten: das Intermezzo gleichsam als „Handwerker-szene“ mit neckischen Bläser-Streicher-Dialogen; das Adagio molto mesto als Lohengrinhafte Arie für Cello mit Pizzicatobegleitung, deren Thema die Klarinette übernimmt, dann als Trauerkondukt des Horns und der Streicher; das Scherzo mit Schubert-Reminiszenzen; das Finale mit einem ebenso einfachen wie wirkungsvollen Klarinettenthema. Man kann sich vorstellen, dass Brahms an dieser Musik seine Freude hatte.