„Lamentations“ für Chor und Bläserensemble (ca. 1560)
Werkverzeichnisnummer: 2906
1. Incipit Lamentatione Jeremiae
2. De lamentatione Jeremiae prophetae
Mit dem Act of Settlement von 1559, einer Art Staatsvertrag zur endgültigen Einführung der Reformation in England, verdrängte die englischsprachige Liturgie die Gregorianik von Salesbury (den „Sarum Rite“) und die restliche lateinische Kirchenmusik der Insel fast vollständig aus dem anglikanischen Ritus. Dennoch fuhren die Hofkomponisten von Elisabeth I. fort, auch weiterhin lateinische Texte zu vertonen. Die Königin selbst hegte nämlich eine Vorliebe für den lateinischen Ritus. In dieser Nische des königlichen Zeremoniells entstanden einige der schönsten lateinischen Motetten des 16. Jahrhunderts, insbesondere von Thomas Tallis und seinem jüngeren Kollegen William Byrd, die beide Gentlemen der Chapel Royal waren.
Thomas Tallis hat in seinem über 40jährigen Dienst als Organist für Klerus und Königshaus alle Macht- und Konfessionswechsel des Jahrhunderts heil überstanden: die Aufhebung der Klöster, Heinrich VIII., „the bloody Mary“ und die erste Hälfte der Regierung Elsiabeths. Vielleicht bewegten ihn die Erfahrungen dieser blutigen Zeit zur Komposition der Lamentations, vielleicht war es ein Auftrag der Königin. Die beiden Stücke passen liturgisch zwar zusammen – es handelt sich um die Texte der ersten und zweiten Matutin zum Gründonnerstag -, scheinen jedoch zu verschiedenen Karwochen entstanden zu sein. In der Gliederung der umfangreichen Texte ist Tallis in beiden Werken ähnlich verfahren. Die Ankündigung Incipit lamentatio Jeremiae prophetae bzw. De lamentatione Jeremiae prophetae fungiert als feierliche Einleitung in Imitationen. Danach kommt es zum kontinuierlichen Wechsel zwischen den hebräischen Buchstaben Aleph, Beth etc. in der Form „seelenvoller Melismen“ (Paul Doe) und den streng syllabisch vertonten lateinischen Versen. In letzteren werden die Klagen des Propheten Jeremias über die Zerstörung Jerusalems in den akkordischen Satz der neuen anglikanischen Musik gekleidet.
Besondere Aufmerksamkeit verdient der abgedunkelte Klang dieser Sätze. In der hier gesungenen Lage werden nur tiefe Stimmen verwendet: Alt, Tenor und Bass. Dieser gedeckte Klang passt zu den Tenebrae lectiones, den Finstermetten der Karwoche, und ihren von Buße und Umkehr geprägten Texten.