Aria mit 30 Veränderungen (Goldberg-Variationen), BWV 988 in der Fassung für Streichtrio von Dmitri Sitkovetsky
Werkverzeichnisnummer: 2871
ARIA
VARIATIO 1
VARIATIO 2
VARIATIO
3. Canone all’Unisono
VARIATIO 4
VARIATIO 5 VARIATIO
6. Canone alla Seconda
VARIATIO 7
VARIATIO 8
VARIATIO
9. Canone alle Terza
VARIATIO 10. Fughetta
VARIATIO 11
VARIATIO 1
2. Canone alla Quarta
VARIATIO 13 VARIATIO 14
VARIATIO 1
5. Canone alla Quinta (Andante)
VARIATIO 1
6. Ouverture
VARIATIO 17
VARIATIO 1
8. Canone alla Sesta
VARIATIO 19
VARIATIO 20
VARIATIO 2
1. Canone alla Settima
VARIATIO 2
2. Alla breve
VARIATIO 23
VARIATIO 2
4. Canone all’Ottava
VARIATIO 25
VARIATIO 26
VARIATIO 2
7. Canone alla Nona
VARIATIO 28
VARIATIO 29
VARIATIO 30. Quodlibet
ARIA
Aria mit verschiedenen Veränderungen hat Johann Sebastian Bach mit nicht zu unterbietendem Understatement auf den Titel eines Cembalowerks geschrieben, mit dem er seine Zeitgenossen zur Michaelismesse 1741 oder 1742 überraschte. Ob es damals viele Cembalisten gab, die dieses Werk eben mal so spielen konnten wie ihr Komponist oder sein genialer Schüler Johann Gottlieb Goldberg, dem die Variationen ihren Beinamen verdanken, bleibt dahingestellt. Tatsache ist, dass Musikliebhaber der Bachzeit wie die Nichte des Dichters Gottsched an Bachschen „Claviersachen“ förmlich bis zur Verzweiflung übten, dass sie sie nichtsdestotrotz bewunderten und die „Gemüths-ergötzung“, auf die es ihr Schöpfer angesehen hatte, sehr wohl empfanden.
Deshalb ist es auch nicht unwahrscheinlich, dass ein ganz harmloser Umstand wie die Schlaflosigkeit des Dresdner Grafen Keyserlingk tatsächlich der Auslöser für Bachs Riesenwerk war. Um seinem Gönner die Zeit während eben jener Nächte zu vertreiben, so die Anekdote, konnte Bach nicht nur auf die Virtuosität seines Schülers Goldberg vertrauen, der des Grafen Hauscembalist war, sondern auch darauf, dass dieser die Variationen stets nur in Auszügen spielte, dass man sich einzelne von ihnen als Stärkungs- und Genuss- (nicht Schlaf-) mittel ganz nach Gusto „zu Gemüthe“ führte, und dass die ungeheuer kunstvolle Architektur des Ganzen dabei eine Beigabe für die Kenner blieb.
Für uns heute stellt sich der Sachverhalt anders dar: Längst sind zyklische Aufführungen aller Variationen die Regel geworden, ohne dass man damit, wie E.T.A.Hoffmanns Kapellmeister Kreisler im Salon der Röderleins, die Musikliebhaber scharenweise in die Flucht schlagen könnte. Es mag deshalb reizvoll erscheinen, die bereits erwähnte Architektur der Aria mit 30 Veränderungen einmal nicht im pianistischen Original, sondern in der Fassung für Streichtrio des russischen Geigers Dmitri Sitkovetsky zu erleben. Das Spiel mit drei Stimmen wird hier möglicherweise transparenter als auf dem Cembalo oder insbesondere auf dem einmanualigen Flügel. Außerdem wird die Fülle an außerclavieristischen Aossziationen deutlich,d ie Bach diesem Werk einschrieb.
ARIA: Die Goldberg-Variationen sind die Krönung eines besonderen Typus der deutschen Cembalomusik, der sogenannten Aria variata. Dabei wird eine Aria, ein zweiteiliger Tanzsatz, in der Weise verarbeitet, dass jede Variation ihre Grundharmonie beibehält, aber Melodie, rhythmische Bewegung und die harmonischen Details nach Belieben verändert. Bach benutzte al sThema eine G-Dur-Sarabande über einem absteigenden Bass, der leicht zu behalten und wiederzuerkennen ist. Jede der 30 Variationen lässt in ihrer zweiteiligen Form die harmonischen Eckpfeiler der Aria wiedererkennen. Alle 30 sind jedoch im Charakter völlig verschieden und dabei in 10 Gruppen zu je drei „Veränderungen“ eingeteilt. Der jeweils dritte Satz ist nämlich ein Kanon: über dem stets neu variierten Bass der Aria imitieren einander zwei neue Stimmen kanonisch im Einklang, im Sekund-, Terz-, Quartabstand etc. Bis zur None steigt die Kanonfolge auf und wird dann mit einem weltmännischen Scherz beschlossen.
VARIATIO 1: Die Aria erscheint verwandelt in den Kontrapunkt einer zweistimmigen Invention im Polonaisen-Rhythmus.
VARIATIO 2: Ein spielerischer Satz in Zweierbewegung.
VARIATIO 3: Violine und Bratsche spielen im Abstand von zwei Takten einen Kanon im Einklang, während das Cello eine unabhängige Bassstimme in Achteln und Sechzehnteln ausführt.
VARIATIO 4: Über den deutlich erkennbaren Bassnoten der Aria spielen die Oberstimmen akkordisch-vollgriffige Imitationen.
VARIATIO 5: Der ursprüngliche Effekt des Übergreifens der rechten Hand über die rasch bewegte linke führt im dreistimmigen Streichersatz zu einem reizvollen Dialog zwischen geige und Cello.
VARIATIO 6: Der satztechnisch schwierige Kanon in der Sekunde (die zweite Stimme setzt jeweilse eine Sekunde höher ein als die erste) wurde von Bach in der zu erwartenden Weise gelöst: als Kette von Sekundvorhalten, die über dem bewegten Bass ständig aufgelöst und wieder neu eingeführt werden.
VARIATIO 7: Der erste von mehreren Tanzsätzen in den Variationen, hier eine Gigue im punktierten Rhythmus der französischgen Form dieses Tanzes. (Auf die glatt durchlaufende Achtel-Sechzehntelrhythmik der italienischen Giga hat Bach in einigen der Kanons angespielt.) Die kleinen Verierungen un raschen Läufe verleihen dem Satz seinen pittoresken Reiz.
VARIATIO 8: Als ständiges Annähern, Kreuzen und Sich-Wieder-Abstossen der beiden Hände in Achteln und Sechzehnteln ist diese Variation angelegt.
VARIATIO 9: Die zweite Stimme imitiert die erste in der Unterterz und im Taktabstand in Achtelbewegung. Das rhythmische Raffinement entsteht durchd ei Überbindungen und durchlaufenden Sechzehntel der Unterstimmen.
VARIATIO 10: Die Fughetta wird im Namen „kleine Fuge“ gerecht durch das knappe Thema mit seinem prononcierten Triller und die burschikosen Achtel. Die Form bleibt streng zweiteilig, wie in den anderen Variationen.
VARIATIO 11: Voreinander fliehende Sechzehnteltriolen und Triller mit melancholischen Molleintrübungen der Harmonie sind das Material dieser Variation.
VARIATIO 12: Den altmodischen Duktus einer Passacaglia hat Bach in seinem Quartkanon nachgeahmt. Die absteigenden Bassnoten der Aria ergeben den alten Passacaglia-Bass (allerdings in Dur), dazu imitieren die Oberstimmen einander im Abstand einer Quart. Zum ersten Mal begegnen hier zwei wesentliche Elemente der späteren Variationen: ständige Umkehrung der Motive und merkwürdige, aus der Harmonie fallende Halbtonschritte.
VARIATIO 13: So altertümlich Nr. 12 anmutet, so modern wirkt Nr. 13: ein kantables Andante voller „sprechender“ Verzierungen in der singenden Oberstimme und affektierter Mollwendungen in der Begleitung, fast wie eine kantable Cembalosonate von Scarlatti.
VARIATIO 14: Triller in beiden Händen, Pralltriller, große Sprünge und flirrende Zweiunddreißigstel ergeben ein überaus „pianistisches“ Material, das diese Variation für die Streicher eher eigenwillig macht.
VARIATIO 15: Wie bei Bach nicht anders zu erwarten, hat er den Schluss der ersten Hälfte, also die 15. Variation besonders akzentuiert. Es ist die erste von drei langen, langsamen Mollvariationen, die die innerlichen Höhepunkte des Zyklus bilden. Wie Nr. 21 und 25 ist auch die erste g-Moll-Variation von Halbtonschritten gleichsam überwuchert. Die vielen chromatischen Durchgänge verbinden sich hier freilich mit der strengen Technik eines Umkehrnungskanons in der Oberquint. Die erste Stimme folgt der zweiten eine Quint höher und einen Takt später, spielt aber alle zu erwartenden Töne in Umkehrung, also von oben nach unten oder vice versa. Die harmonischen Komplikationen, die sich dabei aus der chromatischen Stimmführung, zumal mit der dritten Stimme ergeben, haben Bach nicht abgeschreckt. Erschreckend ist allerdings das Ausmaß an Resignation, das er in diesen Schluss der ersten Variationenhälfte hineingelegt zu haben scheint.
VARIATIO 16: Auf den düsteren Schlusspunkt von Nr. 15 antwortet die erste Variation der zweiten Hälfte mit der Pracht einer veritablen Ouvertüre im französischen Stil. Im pompösen Einleitungsteil mit seinen Tiraten (schnellen Läufen), punktierten Rhythmen und orchestralen Akkorden hat Bach den Orchesterklang und die Aura einer Ouvertüre von Lully, rameau oder Campra nachgeahmt, zu der das rasche Fugatodes zweiten Teils ebenso selbstverständlich gehört.
VARIATIO 17: Eine Etüde in Sechzehnteln, mal Läufe, mal Terzengänge, mal bizzarre Folgen von Sextsprüngen.
VARIATIO 18: Im Abstand von nur einem Viertel, also in Engführung, setzen die beiden Stimmen im Sextkanon ein. Dadurch wird die Sext auf dem nächsten Schlag sofort zur Septime, also zur Dissonanz. Der regelmäßige Wechsel von Dissonanz und Auflösung über einem „gehenden“ Bass erinnert an die Triosonaten für Streicher von Corelli.
VARIATIO 19: Ein schnelles Menuett in unausgesetzter Sechzehntelbewegung.
VARIATIO 20: Ein Klangspiel aus gegenläufigen gebrochenen Akkorden und Triolenfiguren, in das sich im zweiten Teil Chromatik einmischt.
VARIATIO 21: Der Septimenkanon, die vielleicht schwierigste Kanonart, bewegt sich bei Bach über dem chromatisch absteigenden Bass, dem sogenannten „Lamento-Bass“ des Barock. Die beiden Oberstimmen greifen die Chromatik der Unterstimme auf und verdichten dadurch noch ihren komplizierten Intervallzusammenhang. Der Satz erzeugt die gleiche Aura von „Stile antico“ und gedanklicher Abstraktion, wie sie auch die Kanons von Bachs Musicalischem Opfer und Teile der Kunst der Fuge wachrufen.
VARIATIO 22: Zu Bachs Auseinandersetzung mit dem alten Stil des 16. und 17. Jahrhunderts gehörte auch die Nachahmung der Motetten eines Palestrina im „Alla breve“-Takt. Darauf spielt das Alla breve der 22. Variation ab.
VARIATIO 23: Eine Caccia, ein Kanon in Engführung zwischen sich jagenden Sechzehnteln, aber ohne strenge Kanontechnik, eher eine spieltechnische Etüde.
VARIATIO 24: Dem Oktavkanon hat Bach das liebliche Erscheinungsbild einer Pastorale verliehen. Von Jesus bleibet meine Freude bis zu Mache dich mein Herze rein durchziehen Sätze dieses Typus sein Vokalwerk.
VARIATIO 25: In einem für mich unvergesslichen Fernsehfilm wurde die Musik dieser Variation Bildern des zerstörten Dresden hinterlegt – ein Sinnbild für den Grad an Resignation, den der alternde Bach hier in die Form einer reich verzierten Sarabande gekleidet hat. Die Intensität der Zwischendominanten und chromatischen Übergänge in Melodie und Begleitung spottet jeder Beschreibung.
VARIATIO 26: Mit Nr. 26 beginnt die Folge der hochvirtuosen Schlussvariationen, die nur vom eher unschuldigen Nonenkanon unterbrochen werden. Nr. 26 lebt von den rasenden Sechzehnteln im 12/16-Takt, der schnellsten Taktart der Bachzeit.
VARIATIO 27: Nach acht dreistimmigen Kanons hat Bach sich im neunten eine Scherz erlaubt: er ist nur zweistimmig, wodurch das heikle Unterfangen, eine Stimme in der Obernone zu imitieren, eine fast spielerische Heiterkeit bekommt.
VARIATIO 28: Markante Oktavsprünge im Bass, kurze Spitzentöne und Triller inder Bratsche verleihen Nr. 28 ein fast bizzarres Klanggewand.
VARIATIO 29: Die vollgriffigste Vraiation, sozusagen das virtuose Finale des Zyklus vor dem heiteren Ausklang der Nr. 30.
VARIATIO 30: Statt des zu erwartenden Kanons in der Dezime hat Bach seinen Zyklus mit einem Augenzwinkern abgeschlossen, indem er auf die Form des Quodlibets zurückgriff. Diese volkstümliche Form des Durcheinandersingens von Volksliedern, die Bach auch in einem frühen Hochzeitsquodlibet selbst einmal ausprobiert hatte, wird hier sozusagen vergeistigt. Die Lieder „Ich bin so lang nicht bei dir gewest“ und „Kraut und Rüben haben mich vertrieben“ wandern frei durch die Stimmen und paaren sich mit dem Bass der Aria. Ob sich dahinter eine Anspielung an die Adresse von Graf Keyerlingk oder einfach ein zotiger Scherz verbarg, bleibt Bachs Geheimnis. Ganz am Ende kehrt noch einmal die Aria wieder, wie um zu zeigen, aus welch einfacher Quelle alle vorangegangene Kunst gespeist ward.