Adagio für Streichquartett | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Guillaume Lekeu

Adagio für Streichquartett

Adagio für zwei Violinen, Viola und Violoncello, „Mon âme est triste jusqu’à la mort“

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 2855

Satzbezeichnungen

Molto adagio, sempre cantante doloroso

Erläuterungen

QUARTETT-SPIEGELUNGEN

Ein 17jähriger Komponist auf der Suche nach sich selbst, ein 40jähriges Genie im Ringen um das „perfekte“ Streichquartett und ein fast 70jähriger Altmeister, der mit der Unbefangenheit der Jugend moralische Mißstände in Kammermusik anprangert – dies sind die Protagonisten des heutigen Abends. Er fügt sich nahtlos zum Motto der neuen Villa Musica-Saison „Lebenslinien – Jugend und Reife“, auch, was die stilistischen Implikationen betrifft. Im ersten Werk von Lekeu sprengt unter den Auspizien der französisch-belgischen Spätromantik der Ausdruck die Form, im zweiten von Janacek wird mit den Mitteln der Moderne einem Dichter der Spätromantik, Leo Tolstoi, gehuldigt, im dritten, dem a-Moll-Quartett von Brahms, wird mit den Mitteln der Spätromantik die Dichte der thematischen Prozesse in der Moderne heraufbeschworen. „Spiegelungen“ dieser Art sind das erklärte Ziel des Spiegel String Quartet aus Antwerpen, das Peter Stieber vom SWR 2 nicht nur wegen seiner spielerischen, sondern auch wegen seiner programmatischen Qualitäten in die Villa Ludwigshöhe einlud. Dass das belgische Quartett dabei zugleich für einen bedeutenden Komponisten seines Landes wirbt, ist ein erwünschter Nebeneffekt.

GUILLAUME LEKEU
Adagio molto

Guillaume Lekeu dürfte für Besucher von Kammermusikabenden in Deutschland nahezu ein Unbekannter sein. Als Meisterschüler von César Franck und Vincent d’Indy schuf derWallone in knapp sechs Jahren zwischen 1887 und 1893 einige der bedeutendsten Kammermusikwerke des „Fin de Siècle“: die für Ysaÿe geschriebene Violinsonate, eine Cellosonate, je ein Klaviertrio und Klavierquartett sowie mehrere frühe Werke für Streichquartett. Der belgische Musikhistoriker Georges Systermans bezeichnete Lekeu als einen „flammenden Meteor, der einige der bewegendsten und leidenschaftlichsten Seiten Musik“ geschaffen habe, die man in der Instrumentalmusik kenne. Sein notorischer Hang zum emotional Aufwühlenden und sein Tod im Alter von kaum 24 Jahren an Typhus trugen dem Belgier im französischen Sprach-raum den Beinamen „Rimbaud der Musik“ ein. Hört man sein frühes Adagio für Streichquartett von 1887, wird man dieses Epitheton bestätigt finden.

Wie Joseph Haydn 100 Jahre früher in seinen Sieben letzten Worten unseres Erlösers am Kreuz wählte der 17jährige Lekeu für dieses Quartett Worte aus der Passion Jesu Christi zum Motto: „Meine Seele ist betrübt bis an den Tod“, das Geständnis des Heilands in Gethsemane und der Beginn seines Ringens mit dem Vater, hat Lekeu auf sein eigenes Schicksal bezogen. Sein ästhetisches Bekenntnis, der Künstler müsse sein ganzes Leben in den Dienst eines Ideals stellen, das er in allen seinen Werken zu verwirklichen habe, verbindet sich hier mit Reminiszenzen an den späten Beethoven. Dessen Quartette verdankte Lekeu sein künstlerisches „Bekehrungserlebnis“.

Aufführungen der späten Beethovenquartette versetzten den 17jährigen in solche Euphorie, dass er seine Berufung zur Musik erkannte, seine wallonische Heimat verließ und nach Paris aufbrach, um bei seinem Landsmann Franck zu studieren.
„Beethoven hat uns gezeigt,“ so schrieb Lekeu damals enthusiastisch, „dass etwas anderes aus dem Streichquartett gemacht werden muss als ein perfektes Werk in regelmäßiger Form wie Haydn und Mozart. Er schuf eine zutiefst originelle Konzeption des Quartetts, doch auch ich werde etwas tief Persönliches schaffen.“ Seine unvollendeten Ansätze zu einem großen Streichquartett verraten dieses hehre Ziel.
Das Molto adagio Mon âme est triste jusqu’à la mort gehorcht nicht mehr den Gesetzen der Sonatenform, wie noch15 Jahre zuvor das a-Moll-Quartett von Brahms, sondern es sucht sein heil in einer Form, über die ausschließlich die Emotion regiert. Ungewöhnlich ist schon der 5/4-Takt mit seinem ständigen Wechsel zwischen Zweier- und Dreiermetrum. Er scheint aus den unregelmäßigen Rhythmen der wallonischen Volksmusik abgeleitet zu sein, verliert hier aber alle volkstümliche Einfachheit und wird zum Träger einer hochgespannten Ausdruckskunst, in der mal hämmernde Tonrepetitionen, mal schwelgerische Melodiebögen den Klang bestimmen. „In dem Versuch, in die Form des Quartetts die ganze überbordende Fülle seiner Einfälle zu zwängen, trieb Lekeu die Romantik des späten Beethoven ins Extrem. Er gab dem Ausdruck seiner Gefühle – Leidenschaft und Qual, Ekstase und Verzweiflung – den Vorzug vor Form- und Stilfragen. Seine bedeutendsten Werke sind Tondichtungen über sein innerstes Gefühlsleben, romantisch bis ins Mark. Seine Melodik wirkt absolut originell; sie bringt die verschiedenen Themen eines Werkes in all ihrer leidenschaftlichen Gedankenschwere immer mit dem Hauptgedanken in Verbindung. Die Klangfülle und die manchmal exzessive Farbigkeit verdienen weit mehr Bewunderung als die Form. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir es mit Jugendwerken eines Genies zu tun haben, dessen hitziges Temperamt keine Zeit mehr hatte, sich zu einem reifen Stil zu kristallisieren.“ (G. Systermans)