Streichquartett Nr. 2 | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Volker David Kirchner

Streichquartett Nr. 2

Quartett Nr. 2 für 2 Violinen, Viola und Violoncello (1999)

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 2850

Satzbezeichnungen

1. … verwehte Spuren …
Adagissimo – Animato

2. Katarakt. Frenetico

3. Inneres Bild (Tristano). Lento

4. Schattengestalt. Corrente

5. Abgesang (Epilog). Molto lento

Erläuterungen

Um künstlerische Prägungen geht es auch Volker David Kirchner in seinem zweiten Streichquartett. Der Mainzer Komponist, der im Jahr 2000 durch seine Oper Gilgamesh im Kulturprogramm der EXPO Aufsehen erregte, gehört seit Jahrzehnten zu den Vertretern einer traditionsbezogenen Neuen Musik in Deutschland. Der Rückbezug auf die großen Vorbilder Mozart, Schumann, Mahler, Bartók und Schönberg, der sich durch seine Orchester- und Kammermusikstücke zieht (Bildnisse-Zyklus u.a.), ist bei ihm keineswegs naiv, sondern teils biographisch, teils ästhetisch bedingt: „Auch in meinem neuen Streichquartett geht es um innere Bilder, die uns eingebrannt sind. Wohl jeder Musiker wird das erste Erlebnis von Wagners Tristan als ein solches Bild erleben, das ihn sein Leben lang nicht loslässt. Ähnlich fühle ich bei Mahler, bei der ersten Nachtmusik aus der Siebten. Das ist ein Motiv, das mich mein Leben lang verfolgt. Spuren davon finden sich in meinem zweiten Streichquartett, aber nicht als Zitate, sondern als Verwehungen, so, wie es der Titel des ersten Satzes besagt: als verwehte Spuren.“
Das Quartett entstand im Jahre 1999 in Damaskus und ist dem Streichquartett Villa Musica gewidmet. Im ersten Konzert dieser Serie am 2.2. in Schloss Engers findet die Uraufführung statt. Kirchner sagt von dem Werk als Ganzes: „Es ist ein zerklüftetes Stück, wie ein Katarakt (vergleiche den Titel des zweiten Satzes). Viele Klangfarbenwechsel und extreme Komprimierungen des Materials spielen sich hier ab. Ich empfinde sie als Resultat persönlicher Konflikte, aber auch als Ergebnis des ‚Konflikts Streichquartett‘, das ja seit Bartók und Schönberg immer wieder mit Komprimierung, Ballung, Verdichtung arbeitet. Vieles davon steckt in diesem Werk.“

Zu Beginn des ersten Satzes …verwehte Spuren … spielt das Cello das Hornsolo aus der ersten Nachtmusik von Mahlers Siebter Sinfonie, begleitet von einem liegenden G in den Oberstimmen. Das Mahler-Motiv ist durch den ponticello-Klang und das extrem langsame Zeitmaß quasi ins Unendliche gedehnt, während sich das einleitende G als Zentralton „durch das ganze Stück bohrt“ (Kirchner). Aus dem Mahlerthema werden einzelne Intervalle abgespalten und in nervös-vibrierender Manier kontrapunktisch verarbeitet. Das Mahlerzitat dient gleichsam als „Reihe, aus der focusartig bestimmte Intervalle herausgefiltert werden“ (Kirchner). Damit ist das erste Materialfeld des Satzes umrissen. Zwei weitere lösen den Hauptsatz ab, zunächst eine Art Kondukt aus chromatischen Klagelauten, die wie von Ferne (da lontano) erklingen, dann eine schnellere Episode (Animato), in der – über Bordunklängen des Cellos – kesse Motive mit kurzen Vorschlägen allmählich groteske Größe annehmen. Am Ende kehrt das zentrale G in Pizzicato-Triolen mit Dämpfern wieder, bevor der erste c-Moll-Dreiklang Mahlers den Satz beschließt.

Der zweite Satz Katarakt ist „ein Befreiungsschlag nach dem bedrückenden ersten. Es handelt sich um eine harmonisch-rhythmische Kompression des Mollcharakters, der im ersten Satz noch in schwebendem Zustand erschienen ist. Hier wird er extrem verdichtet und beschleunigt“ (Kirchner). Die rasenden Läufe und perkussiven Dreiklangsbrechungen, die den Satz durchziehen, werden aus geräuschhaftem „Geprassel“ heraus bis zur vollen Lautstärke entwickelt. In der Harmonik werden die Terzen des Mahlerzitats quasi „auf engstem Raum zusammengepresst“.

Der dritte Satz, Tristan, schließt sich attacca an den zweiten an. Die Brücke bildet das zentrale G, aus dem sich behutsam ein weiteres „eingebranntes Bild“ im Sinne Kirchners herausschält: der „Tristanakkord„aus dem Vorspiel zu Tristan und Isolde von Wagner. „Es ist wie ein Trauma. Wagners Chromatik löst sich in modale gläserne Flächen auf, immer weiter entfernt sich die Harmonik von ihr, dann bricht sie wieder ein und gipfelt in einem Knotenpunkt.“ (Kirchner)

Der vierte Satz Schattengestalt ist eine Auseinandersetzung mit Schönbergs Scherzi. Es geht hier weniger um Schönbergs atonale Harmonik, als vielmehr um seinen spezifischen Quartettklang, der sich im Wechsel von gedämpften Legatobögen und nervösem Spiccato entfaltet. In der Mitte steht eine kurze, ruhige Episode, die den Schluss-Satz vorzubereiten scheint.

Diesen fünften Satz, Epilog, hat Kirchner erst nach seiner Rückkehr nach Deutschland hinzugefügt. „Als ich zum ersten Mal wieder die Villa Musica betrat, mein Komponierzimmer dort, habe ich diesen Satz geschrieben. Er ist wie ein Zur-Ruhe-Kommen nach den Zerklüftungen vorher, ein Zeitlupensatz, der die Spannungen auflöst.“