Canzona e Ciaconna für Laute solo
Werkverzeichnisnummer: 2823
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„The Winds of Change“ – „Der Sturm der Veränderung“ – unter dieses Motto stellte Hopkinson Smith die heutige Matinee. Sie vereint Werke aus drei Lautenbüchern, die in den Jahren 1610 und 1611 in den drei wichtigsten Metropolen des frühbarocken Europa erschienen: in London, Paris und Rom. Im unverwechselbaren Charakter jeder dieser Sammlungen haben die drei führenden Lautenmeister Europas die Strömungen ihres Zeitalters zusammengefasst und ein Porträt der Alten Welt am Beginn einer neuen Epoche gezeichnet.
Der Sturm der Veränderung
„Der Beginn des Barockzeitalters war eine Ära von außergewöhnlicher musikalischer Kreativität in verschiedenen Teilen Europas“, so fasste Hopkinson Smith in seinem kurzen Essay zum Programm die Situation im frühen 17. Jahrhundert zusammen. „Der Nachdruck, mit dem man sich damals dem Rhythmus der Sprache zuwandte, zog im vokalen wie instrumentalen Repertoire tief greifende Veränderungen nach sich. Das Jahr 1611 ist ein Meilenstein in dieser Entwicklung: In Paris und Rom erschienen damals Lautenbücher, die die neuen Richtungen in Frankreich und Italien in aller Deutlichkeit erkennen ließen: das Premier Livre des Robert Ballard und das Libro Primo d’Intavolatura di Lauto des Deutschrömers Giovanni Girolamo Kapsperger.
Im Mittelpunkt von Ballards Sammlung stehen seine Couranten. In ihrer rhythmischen Grazie und melodischen Freiheit zeigen sie die Anfänge des „Style brisé“, einer nurmehr suggerierten Polyphonie, in der sich die Stimmen in ihrer Bewegung so raffiniert ablösen, dass ein transparentes Gewebe von großer Eleganz entsteht. Seine „Entrées“, die den Charakter von Präludien haben, und die folkloristisch inspirierten Branles runden das Bild seines Schaffens ab.
Im scharfen Gegensatz dazu steht der Stil von Kapsperger, der von adliger deutscher Herkunft war, aber in Venedig zur Welt kam und in Rom zu einer zentralen Figur des Musiklebens aufstieg. Er schrieb hoch expressive Toccaten, die uns durch ihre extremen Stimmungsumschwünge – mal fast gewalttätig, mal intim und anrührend – in ihren Bann ziehen. Diesen Stücken gesellen sich Tanzsätze mit hochvirtuosen Diminutionen hinzu. Die Quintessenz italienischer Übertreibungskunst, flammende Rhetorik und die breiteste Farbpalette prägen seinen Stil.
Die dritte Figur im Programm ist John Dowland, dessen Varietie of Lute Lessons 1610 in London erschien. Dowland verbrachte einige Zeit sowohl in Frankreich als auch in Italien, verfolgte jedoch unbeirrbar seinen eigenen Stil weiter, in dem sich nur gelegentlich kontinentale Einflüsse zeigen – etwa Diminutionen im französischen Stil oder die italienische Vorliebe für Chromatik. Doch zuallererst war er ganz er selbst – in der lyrischen Tiefe und Melancholie seiner Pavanen, in der theatralischen Beweglichkeit seiner leichteren Tänzen und in seinen musikalischen Charakterporträts der Royals und anderer Höflinge.
In Werken hauptsächlich aus diesen drei Sammlungen, zeigt mein Programm nicht nur die große Vielfalt der drei Lautenbücher von 1610 und 1611, sondern vor allem den Anfang dreier musikalischer Nationalstile, die sich bis ins 18. Jahrhundert hinein behaupten sollten.“ (Hopkinson Smith)
Ein Engländer im Exil: John Dowland „von den Tränen“
„Semper Dowland, semper dolens„ („Immer Dowland, immer in Schmerzen“) - so hat Dowland selbst eine seiner Pavanen für Laute überschrieben, denn er war ein tief melancholischer Charakter. „Elizabethan Melancholy“ nennt man dieses Phänomen, eine Versenkung in die Vergänglichkeit alles Irdischen, die von den Adligen der elisabethanischen Zeit gleichsam als ästhetisches Prinzip geübt wurde. Etwas davon steckt auch in Dowlands Liedern und Lautenstücken, doch seine Melancholie hatte viel tiefere biographische Gründe. Obwohl er anerkanntermaßen der virtuoseste Lautenist seiner Zeit war und schon als junger Mann vor der Königin spielte, hat ihm Elisabeth I. den Posten eines Hoflautenisten lebenslang verweigert. Sie lehnte seine Bewerbung auch dann noch ab, als 1594 endlich sein Nebenbuhler John Johnston, der Lieblingslautenist ihrer Majestät, verstorben war. Die ersehnte Hofstelle blieb ihm bis zum Tode Elisabeths verwehrt. Erst 1612 ernannte ihn König James I. zu einem der sechs „King’s Lutes“ – eine allzu späte Genugtuung für die erlittene Schmach, die alleine Dowland sein Lebensglück vergellte.
Warum die Königin unnachgiebig war, wissen wir nicht. Es könnte daran gelegen haben, dass Dowland offen bekennender Katholik war, oder dass er in einen Skandal verstrickt war, was Königinnen normalerweise nie verzeihen. Vielleicht war es aber auch sein ostentativer Hang zur Melancholie, der die Königin abstieß. In ihrer Hofmusik hatte die als „Oriana“ gefeierte „jungfräuliche“ Königin lieber lebhafte und eingängige Lautenklänge um sich als die schweren und schwierigen Stücke des John Dowland.
Aus Gram über die abgelehnte Bewerbung verließ Dowland 1594 England und verdingte sich bei verschiedenen Fürsten auf dem Kontinent als Hoflautenist. In Florenz geriet er in ein Mordkomplott von Exilkatholiken gegen die Königin, in Augsburg und Nürnberg spielte er für die reichen deutschen Handelsherren. In Hessen-Kassel wurde er vom Markgrafen Moritz, in Kopenhagen vom Dänenkönig Christian IV. in Dienst genommen. Von dort aus betreute er den Druck seiner Lautenlieder, die in der Heimat bald rasend erfolgreich waren und von den Dichtern als „Vermählung zwischen Musik und süßer Poesie“ gefeiert wurden.
Freilich blieben die Tränen Dowlands Markenzeichen auch auf dem Kontinent. Als er sich um 1600 in Nürnberg ins Gästebuch des Kaufmanns eintrug signierte er mit „Johannes Dolandi de Lacrimae“, also, John Dowland „von den Tränen“. Dies war zum einen eine Art Selbstcharakteristik, zum anderen eine Anspielung auf seine berühmte Sammlung „Lacrimae oder sieben Tränen, ausgedrückt in sieben tief empfundenen Pavanen“. Die erste dieser Pavanen wurde zum klassischen Muster einer ganzen Flut von „Lacrimae“-Stücken auf dem Kontinent, die sämtlich das berühmte, fallende Kopfmotiv von Dowlands erster „Tränen“-Pavane aufgreifen. Er selbst ließ neben der Lautenfassung auch eine Consortfassung dieser Musik zu und publizierte es später mit einem hinzu gedichteten Text gar als Lied: „Flow my tears“. Liest man den Text dieses Stücks, so hat man gleichsam die ganze Lebensphilosophie Dowlands vor sich: die unversöhnliche Trauer eines Mannes, der trotz aller Ehren, die ihm zuteil wurden, nie glücklich wurde.
Diana Poulton, die 1972 eine Dowland-Biographie veröffentlichte, fasste die Qualitäten von Dowlands Musik präzise zusammen: „Seine eigenwillig-schöne Melodie vermittelt ein Gefühl von Unausweichlichkeit, … beißende Dissonanzen der Laute verstärken das Gefühl des Tragischen. Akkorde mit übermäßigen und verminderten Intervallen werden dazu benutzt, emotionale Intensität in einem Grade auszudrücken, wie er in dieser Zeit unübertroffen ist.“
Diesen Zeugnissen des schmerzensreichen Dowland stehen in seinen Tänzen entzückende Genrebilder gegenüber. Er verwendete die Modetänze seiner Zeit: neben der langsamen und feierlichen Pavane besonders die Galliarde, den munteren Springtanz, die Almain (Allemande) und Jig (Gigue). Häufig verarbeitete er darin Liedmelodien, teils eigene, teils „Schlager“ der großen Renaissancemeister. Ein bekanntes Beispiel für den letzteren Fall ist „The Lord Viscount Lisle, his Galliard“, wo Dowland eine berühmte Chanson von Orlando di Lasso, „Susanne un jour“, so virtuos verarbeitete, dass man sie kaum noch wiedererkennt. Das berühmteste Beispiel für die Lautenfassung eines eigenen Liedes ist „The Earl of Essex his Galliard“, die Intavolierung des Liedes „Can she excuse my wrongs“. An beides – Lied und Lautensatz – knüpft sich eine tragische Anekdote. Nachdem Essex‘ berühmte Verschwörung gegen seine frühere Gönnerin Königin Elisabeth fehlgeschlagen war, bestellte er bei Dowland das Lied mit dem Titel „Can she excuse my wrongs?“ (Kann sie meine Fehler verzeihen?). Er wollte so die Gnade der Königin erflehen. Doch das herrliche Stück konnte Elisabeth nicht erweichen. Essex wurde hingerichtet. Ohnehin hatte er sich den falschen Komponisten für sein musikalisches Gnadengesuch herausgesucht.
Ein österreichischer Venezianer im Rom Caravaggios
„Nato in Venezia“ sei der Vater des Buben, so vermerkte 1612 ein römisches Kirchenbuch anlässlich der Taufe des kleinen Carlo Andrea Kapsperger. Sein Vater mit dem für Römer unaussprechlichen Namen Johann Hieronymus Kapsperger war nach Auskunft der Quellen ein „nobile Alemanno“, ein deutscher Adliger, der um 1580 als Sohn eines österreichischen Offiziers in Venedig geboren worden war. Er war dort schon früh als Virtuose auf dem „Chitarrone“ aufgefallen. Spätestens 1606 finden wir ihn an der Seite seiner neapolitanischen Ehefrau in Rom, wo er von einigen der wichtigsten Mäzene der Caravaggio-Ära gefördert wurde, besonders von den Kardinälen Montalto-Peretti und Farnese, den Verwandten zweier großer Päpste der Gegenreformation (Paul III. Farnese und Sixtus V. Peretti).
Eine mögliche Erklärung für Kapspergers Eintreffen in Rom liefern die politischen Verhältnisse: die Wahl des neuen Papstes Paul V. Borghese 1605. Zuvor hatte der Erzfeind der Farnese, Papst Clemens VIII., den Heiligen Stuhl besetzt. Unter ihm hatte die französische Fraktion am Tiber triumphiert, nun wendete sich das Blatt. Mit dem Borghesepapst gewann der pro-spanische Fraktion die Oberhand und mit ihr alle Anhänger des Hauses Habsburg. Dies öffnete einem österreichischen Adligen wie Kapsberger Tore und Türen. Nicht zufällig gehörten seine Gönner Farnese und Montalto-Peretti zu den führenden Familien der spanischen Fraktion. Rasch wurde der ebenso umgängliche wie gebildete Mann in diverse „Akademien“ aufgenommen, um dort an gelehrten oder künstlerischen Debatten teilzunehmen, aber auch die erlauchten Mitglieder mit seinem Lautenspiel zu erfreuen. Doch der „Todeschino“, der „kleine Deutsche“, wie ihn die Römer nannten, beeilte sich, seine Aktivitäten über die Theorbe hinaus auszudehnen. „Il Tedesco della Tiorba“ wurde er nur am Anfang seiner Karriere genannt. Bald schon ließ er anderes von sich hören: das erste Madrigalbuch 1609, eine „Maikantate“ für den Hof der Medici 1612, eine lateinische Festmusik zur Heiligsprechung von Ignatius und Franz Xaver, den Gründern des Jesuitenordens, 1622.
Den Höhepunkt seines Einflusses erreichte Kapsperger unter dem Pontifikat des Barockpapstes schlechthin: Urban VIII. Der Barberini-Pontifex, der von 1623 bis 1644 regierte, erhob bekanntlich den Bildhauer Gianlorenzo Bernini zum Architekten des Petersdoms und zum alles beherrschenden Künstler-Manager Roms. In gleicher Weise hiefte er auch Kapsperger in die höchsten Positionen. Seite an Seite produzierten die beiden Barberini-Lieblinge ihre atemberaubenden Werke: 1627, während Berninis Bronze-Baldachin über dem Petrusgrab noch im Entstehen war, feierte der Papst in St. Peter ein Hochamt mit einer 13-chörigen Messe von Kapsperger: 12 Chöre waren an den Vierungspfeilern der Basilika aufgestellt, die 12 Apostel symbolisierend. Die Antwort des Heiligen Geistes gab ein 13. Chor als Echochor von der Kuppel Michelangelos herab – ein geistliches Spektakel monumentalen Ausmaßes. Drei Jahre später eröffnete Kapsperger die lange Tradition der römischen Weihnachtskantaten mit seiner Pastorale „I pastori di Betlemme“ auf einen Text des späteren Papstes Clemens XI. Rospigliosi. Studenten der Kunstgeschichte sind all diese Namen vertraut, denn Kapsperger wirkte tatsächlich im Herzen des römischen Barock.
Unsere Beispiele aus seinem Schaffen gehören freilich in eine frühere Zeit: in die Ära Caravaggios. Ob Kapsperger den berühmtesten Maler Roms noch getroffen hat, bevor dieser als gesuchter Mörder eines Borghese-Anhängers 1606 die Ewige Stadt fluchtartig verlassen musste, darüber kann man nur spekulieren. Die beiden Künstler standen jeweils politisch gesehen auf feindlichen Seiten, und das wollte im römischen Hexenkessel jener Jahre etwas heißen: Caravaggio war ein glühender Anhänger der französischen Partei, Kapsperger ein „Habsburgianer“.
An Sprengkraft im Künstlerischen jedenfalls lässt sich die Lautenmusik des „Todeschino“ mit den Gemälden des nur ein Jahrzehnt älteren Lombarden durchaus vergleichen. Die extremen Kontraste, wie sie Hopkinson Smith beschrieben hat, könnte man als Antwort auf das Hell-Dunkel Caravaggios, auf sein berühmtes „Chiaroscuro“, deuten. Jedenfalls nahm auch nach der Flucht des Malers die Begeisterung der Mäzene für seine brandneue, suggestive Rhetorik stetig zu. Auch in der Musik wollte man nun „sprechenden“ Ausdruck hören, kontrastreiche, unberechenbare, „fantastische“ Klänge, die zugleich Ausdruck höchster Virtuosität waren. All dies findet man in Kapspergers „Libro Primo d’Intavolatura di Lauto“ von 1611.
Der Lautenist der Maria de Medici
Wer im Paris des frühen 17. Jahrhunderts auf der Suche nach Notenausgaben war, der musste sich in der Rue Saint-Jean-de-Beauvais umschauen, mitten im Druckerviertel gelegen. Dort fand sich unter dem Ladenschild des „Mont Parnasse“ das „Atelier“ der Familie Ballard. Robert Ballard, der Patriarch und Firmengründer, hatte 1551 ein königliches Druckprivileg erhalten und in den Folgejahren alle anderen Notendrucker der Hauptstadt, sogar den berühmten Pierre Attaignant, in den Schatten gestellt. Zusammen mit seinem Kompagnon, dem Lautenisten Adrian le Roy, hatte er in wenigen Jahrzehnten mehr als 300 Drucke herausgebracht: allein 25 davon der Chanson gewidmet, andere der Messe und Motette, ein großer Teil Tabulaturdrucken für die Laute und Gitarre. Nach dem Tod des Vaters 1588 hatte die Firma zwar etwas von ihrem alten Glanz eingebüßt, doch noch immer brachten Ballard-Le Roy die neueste Musik schnell und zuverlässig auf den Notenmarkt – so auch das 1611 publizierte „Premier livre“ des Juniorchefs Robert Ballard des Jüngeren.
Es war le Roy, der Onkel und Kompagnon seines Vaters, der den kleinen Robert auf der Laute unterrichtet hatte, und zwar mit so großem Erfolg, dass er als Lautenist, nicht als Notendrucker in die Geschichte eingegangen ist. 1610, mit etwa 35 Jahren, wurde Robert Ballard Hofmusiker in der „Chambre du Roi“, in deren Akten er bis 1645 firmiert. Wichtiger als dieses hochoffizielle Amt waren seine sieben Jahre im Dienste der Königinmutter, Maria de Medici, 1610 bis 1617. Die Witwe des ermordeten Burbonenkönigs Heinrich IV. lenkte für ihren unmündigen Sohn, Ludwig XIII., die Staatsgeschäfte – mit mehr oder weniger großem Erfolg. Peter Paul Rubens hat ihre Taten in dem monumentalen Medici-Zyklus verherrlicht, dessen großartige Dramatik alleine schon erahnen lässt, dass die historische Wirklichkeit etwas anders aussah. Ganz zutreffend aber stellte Rubens die kleine Maria dar, wie sie von den Musen selbst erzogen wird – für eine Medici eine Selbstverständlichkeit! Entsprechend ausgeprägt war ihr Kunstsinn. Indem sie Robert Ballard den Jüngeren zu ihrem Hoflautenisten machte, wählte sie zugleich für ihren Sohn den Lautenlehrer. Ballards Einfluss wurde dadurch mit entscheidend für die Ausbildung des Pariser Hofgeschmacks unter Ludwig XIII. und die gesamte Ausprägung des französischen Stils in der Barockmusik.
Zentrum dieser Entwicklung war die Gattung des „Ballet de cour“, die französische Antwort auf die junge italienische Oper und Gegenstück zur „Masque“ am englischen Königshof der Stuarts. Was aus diesen höfischen „Revuen“ mit ihren „Airs de cour“ und Tänzen heute noch erhalten ist, verdanken wir überwiegend Robert Ballards Lautenbüchern. Seine Musik war also für theatralische Hofspektakel bestimmt: die Couranten zum Tanz, die Entrées als pompöse Auftrittsmusiken. Diese szenische Komponente verleiht dem filigranen Klang seines „style brisée“ noch zusätzlichen Reiz.