Canzona „La Tromboncina“
Werkverzeichnisnummer: 2816
2000
BAROCK IN ROM
In Rom wurde der Kunststil des Barock geboren. Hier begründeten Caravaggio und seine Zeitgenossen die Barockmalerei, Bernini die barocke Skulptur, Maderno und dalla Porta die Architektur von Barockkirche und Palazzo. Wenige Wochen vor der Eröffnung des „Heiligen Jahres“ 2000, in dem Rom wieder in frischer Pracht zu bestaunen sein wird, hielten wir es für reizvoll, einmal die Musik zu spielen, die hinter diesen Fassaden erklang. Dennmusikalisch steht die ewige Stadt bis heute im Schatten von Venedig, Mantua und anderen Zentren – zu Unrecht, wie wir meinen. Nach Monteverdis bahnbrechenden Leistungen war es ein römischer Komponist, Luigi Rossi, der die italienische Vokalmusik entschieden in Richtung auf den Hochbarock lenkte. Über die Wahlrömer Arcangelo Corelli und Alessandro Scarlatti setzte sich diese Hochblüte der römischen Barockmusik fort bis zum Eintreffen des blutjungen Händel im Februar 1707. Dessen römischer Aufenthalt (er dauerte bis Anfang 1709) war der Höhepunkt einer Ära, deren schönste vokale Blüten wir heute abend zu pflücken gedenken. Sie erblühten in den Gärten und Camere der Mäzene Roms, ohne die die barocke Kunst der ewigen Stadt nicht zu denken ist.
DIE MÄZENE
Rom-Kennern wird man sie nicht eigens vorstellen müssen: die Palazzi jener Familien, die die Zeichen der Zeit erkannten, ob sie nun Barberini, Pamphilj oder Ottoboni hießen. Den Startschuß für ihr künstlerisches Mäzenatentum gab in der Regel die Wahl eines Familienmitglieds zum Papst, betrachtete man doch das System des römischen Nepotismus – die Berufung von Neffen oder Großneffen des neugewählten Pontifex in führende Stellen der Kurie und des Kirchenstaates – geradezu als Aufforderung zur Konsolidierung des Familienvermögens. Worin hätte sich letztere besser dokumentieren können als in den Künsten? Daher die vielleicht einmalige Symbiose aus Pracht, mythologischer Überhöhung des Daseins und künstlerisch durchaus voranpreschender Ambition im römischen Barock.
Der „Pontifex maximus“, klingenden Namens wie Urban VIII. Barberini, Innozenz X. Pamphilj oder Clemens XI. Albani, war in der Tat der „oberste Brückenbauer“ zur jeweils aktuellen Wendung des Kunststils. Wir verdanken diesen Herrschaften die Heranziehung begnadeter Talente aus allen Teilen Italiens oder sogar aus dem fernen „Germania“. Um fünf davon geht es in diesem Konzert. PALAZZO BARBERINI, 1640
Zum ersten Hort hochbarocker Kunst in Rom entwickelte sich der Palazzo Barberini an der Via delle Quattro Fontane. Bernini, Borromini und Maderno erbauten dieses Prunkgehäuse für einen wahren Taumel barocker Lustbarkeiten, in den sich Papst Urban VIII. und seine drei Neffen zwischen 1623 und 1644 hineinstürzten. Von der barocken Maschinenoper bis zur intimen Kammerkantate, vom Lautenstück bis zur zwölfstimmigen Messe spannte sich der Bogen ihrer musikalischen Ambitionen, den vor allem drei Musiker-Komponisten auszufüllen hatten: Luigi Rossi als Meister der Vokalmusik, der deutsche Lautenist Hieronymus Kapsberger und der Cembalist und Organist Girolamo Frescobaldi. Den Instrumental-Virtuosen Kapsberger und Frescobaldi können wir bei ihrem Dienst im Palazzo Barberini gleichsam auf die geläufigen Finger sehen: Kapsberger in seiner berühmten Arpeggiata, einem aus gebrochenen Akkorden bestehenden, in fantastische Nebenräume der Harmonie entgleitenden Stück, Frescobaldi in den Cento Partite, seinen 100 Veränderungen über den Passacaglia-Baß. Die Hauptfigur unseres Konzerts jedoch ist Luigi Rossi.
ROSSI und die CANTATA
Der Ruhm des Neapolitaners ist heute verblaßt, obwohl noch der französische Schriftsteller Romain Rolland ihm ein literarisches Denkmal setzte. Das Interesse des Franzosen entzündete sich an dem Umstand, daß Rossis Orfeo von 1645 die erste italienische Oper in Paris war. (Auch hier hatten die Barberini ihre Finger im Spiel, und prompt kam es zu einer Staatskrise wegen der exzessiven Kosten der Produktion!) Was Rolland 1926 über den Opernkomponisten Rossi schrieb, gilt in gleicher Weise für dessen Kantaten: „Luigi weiß, tiefe Bewegungen auszudrücken, und man glaubt durch die Musik hindurch diesen Neapolitaner zu fühlen, die leichte, heitere Seele, die in hübsche Formen und mondäne Eleganz verliebt und dabei ebenso fähig ist, einige Sätze ergreifender Einfachheit zu schreiben, die schon die gewaltige Stimme Glucks vorausverkünden.“ Besonders zukunftweisend und ausdrucksstark fand Rolland die Ensembles von Rossi. Auch die Interpreten unseres Konzerts wählten aus dessen Kantatenschaffen vor allem solche Stücke aus, die für zwei oder drei Singstimmen und Basso continuo geschrieben wurden. Von diesen sagt Rolland: „In seinen anmutigen Trios kündigt er Lully an und geht sogar über ihn hinaus in der Art, wie die Stimmen sich rufen, sich miteinander verschlingen, miteinander spielen, mit lebendiger und geistreicher Eleganz den Instrumenten antworten.“
Die ersten drei Stücke unseres Programms, die Trios Dolenti pensier miei und Hor che notturna pace sowie das Duett Soffrirei, sind dafür beredte Zeugnisse. In ihnen geht es um die Qualen eines einzelnen Liebenden, der sich jedoch gleichsam im Chor ausspricht. Der Reiz des Ensemblegesangs liegt in den Möglichkeiten zur Dissonanzenbildung zwischen den Stimmen, zu jener Art von Harmonien, die die Italiener „Durezze“ (kleine Härten) nannten. „Die Gewalt dieser Vokalmusik riß die Seele aus der Brust aller Zuhörer“, hieß es, reichlich pathetisch, in der Pariser Presse 1645 über Rossis Ensembles. In den Schlußstücken des ersten Teils nimmt diese „Gewalt“ die metaphorische Form des Todes an. Im ersten winselt ein Liebhaber um Gnade, weil er die Intensität der Liebe nicht mehr erträgt. Der Tod ist hier in Wirklichkeit das „Sterben“ beim Liebesakt, nach alter madrigalesker Tradition. Sein Kollege sieht sich einer Wand von Schweigen gegenüber, die ihn dem wirklichen Tod in die Arme treibt.
Das Fortwirken dieser überaus reizvollen mehrstimmigen Kantaten in der nächsten und übernächsten Generation bestätigen unsere Beispiele von Scarlatti und Händel. Als Hauptbereich der Cantata muß aber die Solokantate für eine Singstimme und Basso continuo gelten. Auch hier wies Rossi seiner Zeit den Weg, wie ein Kollege bestätigte, indem er ihn unter die „drei leuchtenden Ruhmessterne der Musik“ neben Carissimi und Cesti erhob.
Wir hören drei Solokantaten Rossis, alle für Sopran und Basso continuo geschrieben. In der ersten Guardatevi o lá tritt uns die Schönheit leibhaftig entgegen, um uns vor ihren Reizen zu warnen. In der zweiten Che cosa mi dite kann eine Liebhaberin das Geschwätz von der Lust am Liebesleid nicht mehr hören: „Die Ketten Amors sind und bleiben Ketten!“ In der dritten erscheint einem Liebhaber seine Angebetete im Traum – und verschwindet wieder. Für alle drei Werke gilt, was Rolland von der Cantata sagt: „Im Wesentlichen war sie dramatische Kammermusik, entstanden aus dem Wunsche, den alle italienischen Musiker damals hatten, alles bis zur Form der Konzertmusik hinunter zu dramatisieren.“
SCARLATTI in der SOMMERFRISCHE 1707
Römische Vokalmusik war eine Angelegenheit der Kastraten. Der Auftritt von Frauen in Kirche oder Oper war strengstens verboten, so daß auch alle Frauenrollen der Opern von darauf spezialisierten Kastraten (wir würden sagen „von Transvestiten“) gesungen wurden. Die besten dieser Sänger wurden früher oder später in den Chor der Sixtinischen Kapelle aufgenommen und ganz am Ende der Karriereleiter deren Kapellmeister. Anfang des 18. Jahrhunderts war dies der Altkastrat Andrea Adami, ein enger Freund des sizilianischen Komponisten Alessandro Scarlatti, der 1703-1708 in Rom lebte und arbeitete. In dieser Zeit schrieb Scarlatti für Adami eine ganze Reihe von Kantaten, deren genaue Entstehungszeit wir kennen. Die Duettkantate Questo silenzio ombroso („Diese schattenreiche Stille“) ist mit dem 17. September 1707 datiert und trägt den Titel Il Sonno (Der Schlaf). Sie führt uns in eine der Sommerfrischen in der Umgebung Roms, die mit ihren „schattenreichen“ Villen dem römischen Adel Zuflucht vor der staubigen Hitze der Stadt gewährten.
Unter dem Albani-Papst Clemens XI. (1700-1721) wurde der Lago di Albano zur beliebtesten Sommerresidenz , wohin es im Gefolge der Reichen auch die Musiker verschlug. Im solchermaßen nicht eben ereignisreichen Sommer 1707 vertrieb sich Scarlatti die Zeit am Albaner See mit der Komposition eben jener Kantaten für seinen Freund Adami. Questo silenzio ombroso ist eine fast wehmütige Hommage an die „schattenreichen Stille“ der Gegend.
Obwohl von zwei Stimmen gesungen, geht es doch wieder nur um die Gefühle eines einzigen verliebten Mädchens. Phyllis will sich durch den Schlaf in die süße Illusion versetzen, sie sei mit ihrem Angebeteten Philenos glücklich vereint. In den wundervollen Kon- und Dissonanzen von Sopran und Alt malte Scarlatti die balsamischen Wirkungen der Nacht und des Schlafes in der schattigen Kühle des Seeufers. Es handelt sich um eine Serenata, eine Nachtmusik, ähnlich Rossis Terzett Hor che notturna pace, das ausdrücklich diesen Untertitel trägt. In ihrer großen Form und feinsinnigen Harmonik geht Scarlattis Nachtmusik jedoch weit über Rossi hinaus und steht Händel nahe.
EIN BETT FÜR HÄNDEL
Quittungen über „ein Bett für Monsieur Händel“, über Essen für „Monsu Endel und seinen Begleiter“ sowie über Unmengen von Eis, die der „Sachse“ verzehrt haben muß, sind, neben den Abschriften Händelscher Kantaten, die wichtigsten Dokumente, die uns über Händels Aufenthalt in Rom 1707/08 erhalten blieben. Händel liebte Rom, soviel läßt sich sagen. Nachdem er, aus Florenz kommend, im Februar 1707 sein Debüt in der „Chiesa di S. Giovanni“ gegeben hatte, fand er sofort Anklang bei den Großen und Reichen der Stadt. Dank der Freigebigkeit des Marchese Ruspoli und des Kardinals Pamphilj verfügte er bald über eine eigene Kutsche, standesgemäße Räumlichkeiten in ihren Palazzi und Dienerschaft. Als Gegenleistung erwartete man
lediglich die Komposition einer neuen Kantate pro Woche – von dem ein oder anderen Beitrag des Lutheraners zur römisch-katholischen Kirchen- und Oratorienmusik abgesehen.
Händel lieferte all dies zur größten Zufriedenheit seiner Gönner ab, lernte von Corelli und Scarlatti, die er in Rom traf, und legte sich in den menschenleeren Gängen der weitläufigen Palazzi in aller Ruhe einen Vorrat von Melodien an, die ihn sein ganzes späteres, weit hektischeres Leben begleiten sollten. Einige dieser Melodien, die dem Genie des 22jährigen ein überwältigendes Zeugnis ausstellen, lernen wir kennen, und zwar in seiner Baßkantate Della guerra amorosa und in dem Terzett Se tu non lasci, amore.
Die Baßkantate widmet sich dem uralten Thema von der Vergänglichkeit der Schönheit, das Händel in monumentalerer Form bereits in seinem ersten Oratorium Il Trionfo del Tempo im Mai 1707 für Kardinal Pamphilj verarbeitet hatte. Den literarisch ambitionierten Kardinal, Großneffe von Papst Innozenz X., möchte man auch als Autor des anonymen Kantatentextes vermuten, da dieser viele Parallelen zu dem von Pamphilj gedichteten Oratorium aufweist. Die Schönheit sei eine Blume, die in einem Tag aufblühe und verwelke, man müsse ihre Verführungen fliehen etc. etc. – ein alter Hut moralinsaurer Predigt, dem Händel soviel knisternd opernhafte Spannung mitgab, wie nur möglich. Der Sänger rät uns, im Liebeskrieg lieber die Flucht vor Amors Pfeilen zu ergreifen, denn Flucht sei nicht ehrenrührig, wenn sie die einzige Möglichkeit zum Sieg sei.
Dem Bassisten verlangen die beiden Arien, die beiden Rezitative und das abschließende Arioso der Kantate einiges an Beweglichkeit ab. Es gibt neben dieser Fassung jedoch noch eine zweite für Sopran, über die der Hauskopist des Marchese Ruspoli im Sommer 1709 eine Quittung ausstellte. Welche die Urfassung war, ist unbekannt.
Mit unserem Finale, Se tu non lasci, amore kehren wir noch einmal zur Terzett-Kantate im Stile Rossis zurück. Das Genre hat hier – ähnlich wie die Duettkantate bei Scarlatti – breitere Dimensionen angenommen. Händel teilte den relativ kurzen Text fast wie eine viersätzige Triosonate ein: Andante über gehendem Baß, Fuge, Dur-Andante und abschließende Fuge im Dreiertakt. Auch hier wird von den Stimmen instrumentale Beweglichkeit verlangt. Die Kantate ist ein Zeugnis für Händels kurzen Aufenthalt in Neapel im Sommer 1708, wo er seine Serenata Aci, Galatea e Polifemo und eben diese Terzettkantate (datiert: 12. Juli 1708) komponierte In beiden Werken agieren, nicht zufällig, zwei Soprane und ein höchst virtuoser Baß.
Karl Böhmer