"Armida abbandonata", HMV 105 | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Georg Friedrich Händel

"Armida abbandonata", HMV 105

„Armida abbandonata“, Cantata für Sopran, 2 Violinen und Basso continuo, HWV 105

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 2784

Satzbezeichnungen

Erläuterungen

Als Georg Friedrich Händel mit 21 Jahren nach Rom kam, wurde er unmittelbar mit jenen Gestalten aus der großen Vergangenheit Italiens konfrontiert, die seine Komponistenkollegen in Deutschland sonst nur aus literarischen Quellen kannten. Römische Heldinnen wie Lucrezia oder Agrippina, Gestalten des Epos wie Dido und Aeneas waren im Rom des Barock allgegenwärtig, denn für den Adel der Ewigen Stadt war die Rückversicherung bei den Heldinnen und Helden der großen Vergangenheit buchstäblich eine tägliche Übung. Armida, der Heldin des Epos „La Gerusalemme liberata“, kam schon allein deshalb ein Ehrenplatz zu, weil ihr psychisch labiler Schöpfer, Torquato Tasso, seine letzten unglücklichen Jahre am Tiber verbracht hatte. Zusammen mit ihrem Geliebten, dem Kreuzritter Rinaldo, mit Tancredi und Clorinda bevölkert Armida die Gemäldegalerien des barocken Rom, die Händel sicher besser kannte als den Urtext von Tassos Epos. Letzteres war freilich damals italienisches Volksgut, wie noch Casanova berichtet: Die Gondolieri in Venedig konnten Hunderte von Tassos Versen auswendig hersagen und hersingen – was Händel sicher auch gehört hat.

Es dürfte ihn also kaum verwundert haben, als sein wichtigster römischer Gönner, der Marchese Ruspoli, bei ihm im Mai 1707 eine Kantate über die „verlassene Armida“ in Auftrag gab. Geschrieben wurde die für sie hoch bezahlte Primadonna des Marchese, Margherita Durastanti, die ein Jahr später die Maria Magdalena in Händels Auferstehungsoratorium „La Resurezzione“ singen sollte. In der kleinen Kantate, die Händel auf einem Jagdausflug seines Fürsten in den kleinen Ort Vignanello an Pfingsten 1707 fertig stellte, gab sich die Durastanti weniger züchtig. Armida ist hier ganz die gescheiterte Frau und Verführerin

Zur Vorgeschichte: Die Zauberin Armida, Feindin der Christen auf ihrem Weg zur Befreiung Jerusalems, bringt ihren Erzfeind, den Kreuzritter Rinaldo, in ihre Gewalt, indem sie ihn mit Zauberkünsten verführt. Doch statt ihn zu ermorden, verliebt sie sich in ihn. Nachdem sie lange Zeit in den Zaubergärten Armidas glücklich zusammen gelebt haben, wird Rinaldo von seinen Kumpanen aufgespürt und an seine Sendung – die Eroberung Jerusalems – gemahnt. Wie Aeneas seine Dido, so verlässt auch er Armida, zerschlägt den Zauberbaum in der Mitte des Gartens und lässt die Verlassene in der Einöde zurück.

An diesem Punkt des Epos, den berühmten Versen, die Armida dem fliehenden Geliebten nachruft, setzt Händels Kantate ein. Die Figurationen der Violinen malen ihre verwirrten Schritte auf der Suche nach dem Geliebten. Plötzlich hält sie inne – und mit ihr die Sechzehntel. Sie lässt sich auf einem Stein nieder und singt ihr bewegendes Lamento „Ah, crudele, e pur ten vai“ (Ach, Grausamer, warum nur gehst du?), eine von Händels wundervollen getragenen Melodien.

In einem zweiten Furioso wünscht sie Rinaldo alle Stürme des Meeres auf den Hals, doch schon in der zweiten Arie nimmt sie ihren Fluch zurück: „Fermate, venti, fermate“ (Haltet ein, ihr Winde). Der Widerstreit zwischen dem Triolensturm der Winde und dem „Fermate“ der Armida verleiht der Arie eine eigenwillige rhythmische Spannung. Am Ende siegt die Liebe und mit ihr die Resignation in Form einer tief traurigen Siciliana.

Man kann sich gut vorstellen, wie Margherita Durastanti diese Kantate an einem Juniabend des Jahres 1707 im Palazzo Ruspoli zu Vignanello aufführte. Die trutzigen Mauern des Palazzo, fast eine Kreuzritterburg, ließen die Szenerie von Tassos Epos ganz nahe erscheinen. Ein Blick hinter das Haus, in den Garten der Ruspolis, lässt Besucher noch heute an den Zaubergarten der Armida denken, die hier in Händels Noten und Durastantis Tönen vor 300 Jahren ihr Leid klagte.