„Anthony O Daly“ für Chor a capella, aus: „Reincarnations“
Werkverzeichnisnummer: 2706
Amerika in den Vierziger Jahren – das war nicht nur eine Nation im Krieg, sondern auch ein Sammelbecken für Musiker aus allen Teilen Europas und aus den amerikanischen Metropolen. So unterschiedlich wie ihre Wurzeln war auch ihr Stil, gerade dann, wenn sie „klassische Musik“ schrieben: Ballettmusik wie der New Yorker Aaron Copland, ein Violinkonzert wie Samuel Barber, der Komponist aus Pennsylvania mit der Vorliebe für Italien, oder eine Sinfonie wie Kurt Weill, der Emigrant am Broadway.
Frühlingsfeier der Pioniere
Washington, DC, Library of Congress, 1944: In der berühmtesten Bibliothek Amerikas erlebt ein patriotisches Ballett seine Uraufführung: „Appalachian Spring“ von Aaron Copland. Die Kritiker der großen Zeitungen jubeln, die Juroren des „Pulitzer Preises“ prämieren das Werk, denn es trifft den Nerv der Zeit: Mitten im Krieg erinnert sich Amerika seiner Wurzeln. Die Reinheit patriotischer Gefühle bei den Pionieren, ihr hehres Ideal von Heim und Herd und die unverdorbene Natur der Appalachen formen ein idealistisches Gegenbild zur Grausamkeit des Krieges und liefern ihm klingend die moralische Rechtfertigung. Noch heute, wenn Coplands „Frühling in den Appalachen“ im Konzertsaal als Orchestermusik erklingt, lässt er die Bedeutung jenes historischen Moments seiner Uraufführung erahnen. Dabei war die ursprüngliche Besetzung mit nur 13 Instrumenten eher kammermusikalisch intim.
Den Inhalt des Balletts hat der Komponist selbst im Vorwort zur Partitur beschrieben: „Eine Pionierfeier im Frühling um ein neu errichtetes Farmhaus in den Hügeln von Pennsylvania im frühen 19. Jahrhundert. Die Braut und der junge Farmer-Bräutigam zeigen die Gefühle – freudige und ängstliche -, die ihre neue Hausgemeinschaft in ihnen weckt. Ein älterer Nachbar bringt von Zeit zu Zeit den wackligen Grund der Erfahrung vor. Ein religiöser Fanatiker und seine Anhänger mahnen die neuen Hausbesitzer an die dunklen und schrecklichen Aspekte des menschlichen Schicksals. Am Ende wird das Paar ruhig und gestärkt in seinem Heim zurückgelassen.“ (Vorwort zur Partitur)
Diese wechselnden Bilder hat Copland so raffiniert in ein patriotisches Klanggewand gekleidet, dass sein „Frühling in den Appalachen“ zum Prototyp eines amerikanischen Orchesterklangs wurde. Besonders der Beginn mit seiner stillen Poesie der reinen Natur hat zahllose Filmkomponisten später zu Ähnlichem angeregt, wenn auf der Leinwand entsprechende Bilder zu sehen waren: abgeschiedene Dörfer in Neuengland oder die alten Siedlungen in Pennsylvania, der Frühling im Nordosten oder der „Indian Summer“.
Der Komponist dieses patriotischen Stückes galt nach dem Tode von George Gershwin als der wichtigste amerikanische Komponist seiner Zeit. Copland entstammte dem Milieu russisch-jüdischer Einwanderer in New York und studierte wie die meisten seiner komponierenden Landsleute in Paris bei der legendären Nadja Boulanger (1921-24). Nachdem er gewisse komplizierte Modernismen seiner frühen Werke hinter sich gelassen hatte, wurde er in den Dreißiger und Vierziger Jahren zum Aushängeschild der amerikanischen Moderne. In Werken wie „Rodeo“ oder „Appalachian Spring“ erfand er einen nationalen Ton für nationale Sujets – einen „American way of music“, der Zukunft hatte.
Freilich gerieten dieser „American way“ und sein Protagonist in den frühen Fünfziger Jahren auf grausame Weise zwischen die Fronten des Kalten Krieges. Nur sechs Jahre nach der Uraufführung des „Frühlings in den Appalachen“ erlebten die USA den Aufstieg eines unbedeutenden republikanischen Senators zum Großinquistor der Nation: Joseph McCarthy. Im Februar 1950 teilte er den schockierten Amerikanern mit, das State Department sei von nicht weniger als 205 Kommunisten unterwandert. Die Mitteilung traf ein Amerika, das der Kommunistenhysterie willig zuneigte. „Wheeling, West Virginia, erlebte jene Art von Komische-Oper-Terror, der in Hunderten von Städten vor sich ging. In Wheeling begann der Tumult, als ein Polizist seine Entdeckung verkündete, Bonbonmaschinen verkauften Candys mit kleinen Geographielektionen für Kinder. Allein die Winzigkeit der Lektionen war schon verdächtig; doch am beunruhigendsten war die Tatsache, dass einige der Geographie-Lektionen die sowjetische Hammer-und-Sichel-Flagge und die Mitteilung trugen, die UdSSR hätten 211 Millionen Einwohner und seien das größte Land der Welt. City Manager Robert L. Plummer wetterte: ‚Das ist eine zu fürchterliche Sache, um sie unseren Kinder zu erzählen!‘ Die Bonbon-Kunden wurden ab sofort sorgfältig vor jeder Information über die Sowjetunion bewahrt.“ (Eric Goldman)
Auf einer weniger tragikomischen Ebene bewegten sich die unbegründeten Anschuldigungen, mit denen McCarthy in den folgenden vier Jahren Tausende von Amerikanern vor den Kadi zerrte. Politiker, Regierungsbeamte, selbst hoch dekorierte Offiziere, vor allem aber Intellektuelle gerieten in seine Schusslinie. Liberaler Lebensstil während des Studiums reichte als Begründung für eine Kommunismus-Anklage aus; die Hexenjagd wurde so unerträglich, dass Albert Einstein seine Kollegen zum passiven Widerstand nach Ghandis Vorbild aufrief. Angriffsflächen bot dem Senator auch die internationale Aufklärungsarbeit der USA durch den Radiosender Voice of America und die sogenannten Amerikahäuser. Nicht nur wurden deren Bücherregale von angeblich linker Literatur gesäubert; auch die musikalischen Botschafter der USA, die über VOA in die ganze Welt gesendet wurden, kamen auf die schwarze Liste.
Aaron Copland gehörte dazu. Noch in den Vierziger Jahren hatte er im Regierungsauftrag engagiert für internationale Zusammenarbeit geworben. Nun hielten McCarthy und seine Gefolgschaft ihr „Copland Colloquium“, in dem sie dafür plädierten, seine Musik auf die schwarze Liste zu setzen. Der Harvard-Professor Copland wurde vor dem Exodus nur durch den unerwarteten Sturz McCarthys bewahrt, der sich 1954 vor den Augen der Nation in einer 36-tägigen, vom Fernsehen live übertragenen Untersuchung abspielte. Die Bloßlegung seiner schamlosen und brutalen Rhetorik ließ McCarthys Gedankengebäude einer kommunistischen Weltverschwörung wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen, freilich ohne all Jene zu rehabilitieren, die ihm zum Opfer gefallen waren.
Violinkonzert eines Ameriko-Italieners
Gegenüber dem jüdischen Einwandererkind Aaron Copland aus New York City wirkte der Komponist Samuel Barber aus Pennsylvania auf seine Zeitgenossen wie ein klassischer „Wasp“: ein „white anglosaxon protestant“, der Idealtypus des US-Amerikaners. Schon als Teenager wurde er Organist an der Prespytarian Church im heimatlichen West Chester, Pennsylvania. Bereits mit seinen ersten Kompositionsversuchen am Curtis-Institute in Philadelphia fand er begeisterte Zustimmung. Als Achtzehnjähriger gewann er den „Bearns Prize“ der Columbia University, später zweimal den „Pulitzer Prize“. Seine heimliche Liebe aber gehörte Italien, wo er regelmäßig arbeitete und prominente Mitstreiter wie Toscanini, Menotti und Zeffirelli fand.
Bekannt und beliebt ist Barber heute fast nur noch dank seines legendären „Adagio for Strings“. Ursprünglich als langsamer Satz seines Streichquartetts Opus 11 entstanden und im Dezember 1936 in Rom uraufgeführt, wurde es auf Wunsch von Arturo Toscanini 1938 für Streichorchester arrangiert. In dieser Version wurde es zum Welterfolg – als Konzertstück für Streichorchester ebenso wie als Filmmusik, u.a. in „Platoon“. Dabei hatte Barber ursprünglich eine Karriere als Opernsänger im Baritonfach angestrebt, was für seinen Stil Folgen hatte: Er blieb ein Komponist der gesanglichen Linie und des spätromantischen Ausdrucks. Seinen neoromantischen Stil hat er lebenslang beibehalten: „Elemente des Barber-Stils, die während seiner Studienjahre aufkamen – die langen, lyrischen Linien, die glückliche Textdeklamation und der gekonnte Einsatz instrumentaler Timbres und Techniken – wurden später nicht mehr radikal verändert“ (R. Jackson). Barber selbst bekannte: „Wenn ich eine abstrakte Klaviersonate oder ein Konzert schreibe, schreibe ich, was ich fühle. Man sagt, ich habe überhaupt keinen Stil, aber das ist nicht wichtig.“
Im Februar 1941, wenige Monate vor dem Eintreten Amerikas in den Zweiten Weltkrieg, brachte Barber in Philadelphia sein Violinkonzert zur Uraufführung. Es ist ein Vorkriegsidyll und weist noch keine Spuren jenes penetranten Patriotismus auf, den er wenig später mit seiner 2. Sinfonie an den Tag legen sollte, ein Werk, das er während seines Kriegsdienstes bei der Luftwaffe für die „Air Force“ komponierte und später selbst vernichtete. Das 1939 komponierte Violinkonzert dagegen ist noch ganz von weicher, singender Melodik bestimmt – eine Huldigung an Rom, wo er 1935 bis 1937 als Berater der American Academy gewirkt hatte. Seine drei Sätze bezaubern auf Anhieb, wobei der Kopfsatz gewisse Anklänge an den Jazz nicht verbergen kann. Das Finale ist ein hoch virtuoses Perpetuum mobile.
Sinfonie eines Emigranten
Kurt Weill fügt unserem amerikanischen Musikpanorama eine dritte Gruppe von Komponisten hinzu: die europäischen Emigranten, die zu Tausenden vor der Nazi-Dikatur in die Vereinigten Staaten flohen. Weill war zusammen mit seiner Frau Lotte Lenya 1935 über Paris und London in die USA gekommen und „machte Amerika ganz konsequent zu seiner neuen Heimat, was einschneidende Konsequenzen für sein Komponieren hatte“ (Werner Grünzweig). Weill wählte den Broadway zur neuen Wirkungsstätte, wo es ihm gelang, das Musical mit Elementen der musikalischen Moderne zur Synthese zu bringen. Notwendig gingen dabei Ansätze seines früheren Berliner Schaffens verloren. „Ohne seine amerikanischen Werke geringschätzen zu wollen und trotz aller Verbindungslinien zum früheren Oeuvre muss man doch feststellen, dass Weill sein Schaffen dem Ziel seiner Amerikanisierung (und damit der Abwendung von Deutschland) mit allen künstlerischen Konsequenzen unterordnete. So blendend sich Weill in die erste Reihe der amerikanischen Musicalkomponisten ‚hinein-komponierte‘, so sehr ging gleichzeitig das charakteristische Moment seiner früheren Musik verloren. Es war eine Kreativität gewesen, die sich an Texten höchster Qualität entzündete…“ (Grünzweig).
Unter traditionellen Vorzeichen hatte der Dessauer Kurt Weill seinen musikalischen Werdegang im Berlin der Zwanziger Jahre begonnen. Nachdem er einen ersten Anlauf zum Studium an der Musikhochschule wegen des dort herrschenden, allzu spätromantischen Stilideals abgebrochen hatte, kehrte er 1920 als Eleve von Feruccio Busoni an die Akademie der Künste in die Hauptstadt zurück. Nach dreijährigem Studium schlug er zunächst an der Seite des Expressionisten Georg Kaiser den Weg des Opernkomponisten ein, bevor er 1927 Bert Brecht kennen lernte und mit ihm in nur drei Jahren Musikgeschichte schrieb. Mit der 1928 uraufgeführten „Dreigroschenoper“ sowie „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ schlugen die Beiden ein neues Kapitel in der Geschichte des deutschen Theaters auf.
Von dem unverwechselbaren Song-Stil, der die Brecht-Weill-Stücke so populär machte, finden sich auch in Weills Sinfonie Nr. 2 Spuren. Dennoch handelt es sich um eine durchweg ernsthafte Auseinandersetzung mit der Gattung auf hohem Niveau. Schon den 21-jährigen Weill, den eifrigen Studenten von Busoni und Jarnach, hatte es zur Komposition einer ersten Sinfonie gedrängt, die aber später verworfen wurde. So blieb die Sinfonie Nr. 2 das einzige voll gültige Orchesterwerk des reifen Kurt Weill und zugleich ein Zeugnis seiner schrittweisen Emigration über Frankreich nach Amerika. 1933 in Paris komponiert, wurde die Sinfonie im Oktober 1934 vom Concertgebouw Orchester in Amsterdam unter Bruno Walter uraufgeführt. In ihrer Tendenz zur thematischen Vereinheitlichung steht sie ganz auf dem Boden der Gattung, lässt aber auch den Bühnenkomponisten Weill zum Vorschein kommen, etwa im motorischen „Ticken“ des Rhythmus oder der „Song“-Melodik.
Der schnelle erste Satz wird von einer langsamen Einleitung im Stil eines Trauermarsches eröffnet – Reflex auf die düsteren Vorboten des Krieges. Die Themen des schnellen Hauptteils in klassischer Sonatenform wirken teils songhaft singend, teils ironisch verzerrt. Der langsame Satz greift den Trauermarsch der Einleitung wieder auf und umhüllt ihn mit einer Aura tiefer Trauer. Nur die Flöten hellen das düstere Bild auf. An ungewöhnlichen Klangfarben mangelt es diesem Satz nicht, etwa im lyrischen Thema des Mittelteils, das der Soloposaune anvertraut ist. Im Rondo-Finale wird man wechselweise an die grellen Scherzi eines Gustav Mahler und an die beschwingte Feenmusik eines Felix Mendelssohn erinnert.