"Lamentatio I" | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Alessandro Scarlatti

"Lamentatio I"

“Lamentatio I” zum Karfreitag (De Lamentatione) für Sopran, 2 Violinen und B. c.

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 2679

Satzbezeichnungen

Erläuterungen

LAMENTATIONEN
Die Klagegesänge des Propheten Jeremias sind der zentrale liturgische Text der katholischen Kirche zur Karwoche. Der Hörer mag sich fragen, warum drei dieser Lamentationen im Rokokoschloß Engers mitten im Sommer aufgeführt werden. Es mag genügen darauf hinzuweisen, daß der Fürstbischof von Trier seinerzeit nur zwei Türen vom Spiegelsaal entfernt – in der leider zerstörten Schloßkapelle – diese Lamentationen selbst anhörte bzw. betete. Unser Anliegen war es daneben, eines der renommiertesten französischen Alte Musik-Ensembles aus einer Stadt nahe des Rheins, Straßburg, mit Alter Musik aus eben dieser Stadt – einem Werk des Straßburger Domkapellmeisters Franz Xaver Richter – nach Engers an den Rhein zu holen. Dies entspricht der Linie des gesamten Konzertwochenendes, das mit dem heutigen Abend beginnt: Junge Ensembles von heute aus Städten am Rhein machen Alte Musik vom Rhein auf alten Instrumenten. Und da man Franz Xaver Richter bei uns für gewöhnlich unter die Mannheimer einreiht, d. h. unter jene Komponisten am Mannheimer Hof, die in ihren Sinfonien und Kammermusiken der Klassik den Weg bereiteten, wollten wir einmal auf den Kirchenmusiker Richter hinweisen und seine viel barockere Kirchenmusik.
Wir danken dem Institut français de Mayence, daß es dieses Gastspiel unterstützt und so auch einen französischen Beitrag zum Thema “Alte Musik am Rhein” möglich machte.

DIE TEXTE

“Die Klagegesänge des Propheten Jeremias führen uns in die Zeit der Verzweiflung und der Finsternis nach der Zerstörung Jerusalems und der Vertreibung vieler Juden durch Nebukadnezars Heere im Jahr 587 v. Chr zurück. Auch wenn in der griechischen Übersetzung der Septuaginta (ca.
200 v. Chr.) das Buch den Titel
‘Klagelieder Jeremiae’ bekam, unter dem es heute noch bekannt ist, darf die Verfasserschaft des Propheten stark in Zweifel gezogen werden, und die fünf Elegien (oder 17 Threni) sind als das Werk unbekannter jüdischer Autoren zu verstehen.

Die literarische Form ist eindeutig künstlich, und zwar handelt es sich um alphabetische Achrostika: Jede Strophe der einzelnen Lamentationen beginnt mit Wörtern, deren Anfangsbuchstaben nacheinander das hebräische Alphabet ergeben. Dieser Kunstgriff diente wohl eher dem leichteren Auswendiglernen und verfehlt seine Wirkung nicht, will er doch sagen, daß jede Klage zwischen Aleph und Tau (wir würden sagen, zwischen A und Z) eingeschlossen ist. Dahinter steckt der dichterische Anspruch, alle Leiden der Menschheit in diesen Klageliedern zu umfassen. Es geht also nicht um Geschichte oder Theorie, sondern um das Gebet in poetischer Form.

Die literarische Gattung ist die des Klagegesangs, den wir auch in anderen Teilen des Alten Testaments wiederfinden, insbesondere in den Psalmen. Der Klagegesang ist eine Art des Gebets, das dem menschlichen Leiden die Maske abnimmt, es realistisch beschreibt; es nimmt aber auch Gott die Maske ab, der durch das Leiden als launisch und irrational angesehen wird… Der Gesamteindruck ist eintönig, man gewinnt den Eindruck, als höre man einen einförmigen orientalischen Klagegesang, dessen Klangkreise sich immer in sich selbst schließen …

Tatsächlich wurden seit alten Zeiten die Lektionen, die in den ersten Matutinen (Tenebrae, Finstermetten) gesungen wurden, mit den Worten Ierusalem, convertere ad Dominum Deum tuum abgeschlossen, die den Worten des Propheten Hosea folgen.” (E. Gatti)
SCARLATTI: LAMENTATIO I

Neben einer Lamentation von Richter enthält unser Programm zwei Lamentationen, die im weitesten Sinne dem Stilbereich des italienischen Spätbarock zuzurechnen sind. Alessandro Scarlattis erste Lamentation zum Karfreitag ist besonders gut geeignet, um den Hörer auf diese spezifisch katholische Form der Passionsmusik einzustimmen. In ihren schmerzvollen Sekundvorhalten und ihrem sakralen Kontrapunkt wirkt sie wie ein katholisches Gegenstück zu den Passionsmusiken Bachs.
Scarlatti komponierte seinen Zyklus von sechs Lamentationen für eine Singstimme, Streicher und Basso continuo um 1706 in Rom. Sie könnten für seinen römischen Mäzen Kardinal Ottoboni bestimmt gewesen sein, der in eben diesem Jahr eine italienische Übersetzung der Lamentationen anfertigte, die Scarlatti in Form eines Passionsoratoriums vertonte. Die lateinischen Fassungen bilden dazu das kammermusikalische Gegenstück.

In der Gliederung der Lamentatio I zum Karfreitag zeigt sich die ganze Kunst des Kirchenkomponisten Scarlatti. Nach einer feierlichen Einleitung, die den Sopran in die Violinstimmen einer Art Triosonate einbettet, werden die hebräischen Worte jeweils von Singstimme und Baß alleine vorgetragen, und zwar in langen Melismen des Soprans, die der Baß imitatorisch eröffnet. Am Ende des ersten “Buchstabens” erklingt ein kurzes Streicherritornell.

Die lateinischen Abschnitte hat Scarlatti nicht als Arien, sondern als freie Ariosi vertont, in denen die Musik minutiös jeder Aussage des Textes folgt. Sie zeigt uns, mal in der Form furioser Allegro-Sätze, mal als Lamenti von abgrundtiefer Trauer, die Zerstörung der Mauern Jerusalems, die Gefangenschaft des Volkes und das Leid der Tochter Zion. Wir hören, ausgedrückt in immer neuen Vorhaltswendungen und kunstvollen Überlagerungen der Streicher mit der Singstimme, das Weinen Zions und die Trauer der Alten, die Asche über ihr Haupt streuen. Wir hören – in Modulationen von ungeheurer Kühnheit – das Wehklagen der Jungfrauen und das Elend der Kinder.

Die Lamentatio schließt mit einem rhetorisch besonders sprechenden Motiv, das die Umkehr Jerusalems zu seinem Gott versinnbildlicht. Der mahnende Ruf “Jerusalem, bekehre dich zum Herrn, deinem Gott!” erhält dadurch besonderen Nachdruck. Insgesamt ist das 20minütige Werk folgendermaßen gegliedert:

DE LAMENTATIONE HETH
Cogitavit Dominus TETH
Defixae sunt in terra JOD Sederunt in terra CAPH
Defecerunt prae lacrymis
JERUSALEM CONVERTERE