Quartett c-Moll für zwei Violinen, Viola und Violoncello, op. 6,4
Werkverzeichnisnummer: 2659
1. Adagio
2. Menuetto – Trio
3. Allegro molto
Als Oskar Kaul 1925 in den “Denkmälern der Tonkunst in Bayern” einen Band mit Kammermusik von Antonio Rosetti herausgab, rechtfertigte er dies mit folgender Überlegung zu dem Komponistenkreis “derer um Haydn und Mozart”, wie er sich ausdrückte: “Wie groß auch immer der Abstand sein mag, der diese Kleinmeister von den Riesengestalten ihrer Vorgänger trennt, so ist doch ihre musikalische Produktion historisch bedeutend genug, um in ihrer organischen Gebundenheit an den künstlerischen Gesamtausdruck der Zeit klar erkannt zu werden, und in ihren besten Gaben zu reizvoll, als daß sie der musikalischen Praxis nicht wieder zugeführt werden sollten.” Als Begründungen für die Herausgabe führt er an:
1. die historische Bedeutung dieser Komponisten, deren Werke uns Informationen über den Zeitgeschmack vermitteln können;
2. eine reizvolle Wirkung in der Praxis.
Von künstlerischer Eigenständigkeit, ja einem prägenden Einfluß auf die Epoche ist nicht die Rede; die genannten Komponisten bleiben “Kleinmeister” im Schatten der “Riesengestalten” Haydn und Mozart.
Es ist leicht, am Ende des 20. Jahrhunderts, belehrt durch die Musikwissenschaft, über diesen Standpunkt zu lächeln. Leider entspricht er immer noch unserem Bild von der Epoche in der musikalischen Praxis. Die Klassik ist für uns nach wie vor die “Wiener Klassik”, die drei Meister Haydn, Mozart und Beethoven sind im wahrsten Sinne des Wortes “Riesengestalten”. Jedem Versuch, bedeutende Komponisten in ihrem Umfeld wiederzuentdecken, bringen Publikum und Musiker Mißtrauen entgegen, viel stärker als etwa in der Barockmusik.
Villa Musica hat in den letzten Jahren mehrfach auf solche bedeutenden Komponisten hingewiesen: auf Josef Martin Kraus und Pompeo Sales, Tomaso Giordani und Johann Gottlieb Naumann. Im sinfonischen Bereich war Antonio Rosetti zweifellos der bedeutendste von ihnen, und er hat auch – wie die Kölner Festtage für Alte Musik 1996 erwiesen – gewichtige Kammermusik für Bläser und Streicher hinterlassen. Wir wollen mit dem heutigen Programm zeigen, daß ein Streichquartett Rosettis dem Vergleich mit den Wiener “Riesengestalten” durchaus standhält, ja daß es den jungen Beethoven sogar deutlich beeinflußt hat.
Antonio Rosetti wurde wenige Jahre vor Mozart geboren und ist ein Jahr nach ihm gestorben. Lange Zeit nur als Komponist gefälliger Flöten- und Hornkonzerte bekannt, ist man auf seine großen Sinfonien und Oratorien erst in den letzten 10 Jahren aufmerksam geworden. Dazu trugen nicht zuletzt die Forschungen des amerikanischen Musikwissenschaftlers Sterling Murray bei, der im letzten Jahr ein vollständiges Rosetti-Werkverzeichnis vorlegte.
Zum Leben des Komponisten schrieb Murray zusammenfassend: “Rosetti wurde ungefähr 1750 als Anton Rösler im böhmischen Litomerice (Leitmeritz) geboren. 1773 verließ er seine Heimat und ging nach Deutschland, wo er im November desselben Jahres der Wallersteinischen Kapelle beitrat. Von diesem Zeitpunkt an nannte er sich stets Antonio Rosetti. Er blieb die nächsten 16 Jahre in Wallerstein. Anfänglich als Diener und Kontrabassist angestellt, wurde er bald zum »Hofmusikus« befördert und etwa 1786 zum Kapellmeister ernannt. Während dieser gesamten Zeit war Rosetti kompositorisch tätig. Er schrieb zahlreiche Symphonien, Konzerte und Bläser-Partiten, die auf die Kapelle des Fürsten zugeschnitten waren. Viele dieser Kompositionen wurden veröffentlicht, und seine Musik fand in Drucken und Abschriften Verbreitung. Dies führte dazu, daß sich Rosettis Ruf als Komponist bald über die Grenzen des Oettingen-Wallersteinischen Hofes ausdehnte. Im Juli 1789 trat er aus den Diensten des Fürsten und wurde Kapellmeister am Hof von Mecklenburg-Schwerin in Ludwigslust. Er starb schon drei Jahre später im Alter von 42 Jahren.”
Zu den Fürsten, die Werke bei Rosetti in Auftrag gaben, gehörte auch der letzte Kurfürst von Trier, Clemens Wenzeslaus. In dessen Koblenzer Orchesterakademien standen Rosettis Sinfonien und Hornkonzerte regelmäßig auf dem Programm, der Kurfürst ließ seine beiden Passions-oratorien in Koblenz aufführen und bestellte bei dem Komponisten 1791 neue Sinfonien.
Ob auch Streichquartette Rosettis in Koblenz gespielt wurden, ist nicht bekannt. doch waren zu Lebzeiten des Komponisten immerhin 12 Quartette gedruckt zugänglich. Von diesen sind die sechs Werke des Opus 6 die bedeutendsten, was man allein daran ermessen kann, daß sie 1787 in Wien publiziert wurden – in direkter und offenbar erfolgreicher Konkurrenz zu den Streichquartetten Haydns.Das c-Moll-Quartett, op. 6, 4, ist ein in jeder Hinsicht außergewöhnliches Werk. Es beeindruckt durch seine pathetische, dem “Sturm und Drang” verpflichtete Tonsprache und durch die Freiheit der Form. Statt der üblichen vier Sätze enthält es nur drei – in höchst origineller Anordnung: Den Anfang macht ein c-Moll-Adagio, das im zweiten Teil nach C-Dur moduliert; in der Mitte steht ein C-Dur-Menuett mit c-Moll-Trio; das Finale ist ein Sonatenallegro in c-Moll, sozusagen der nachgeholte erste Satz, der hier als furioses Finale fungiert.
Am Adagio beeindruckt schon der Unisono-Beginn, der mit seinen verminderten Intervallen stark an den Anfang von Haydns Stabat mater erinnert und damit sakrales Pathos suggeriert. Seufzende Achtel in der ersten Violine, Sforzato-Klänge und pochende Begleitfiguren erzeugen eine beklommene Stimmung, die erst mit der rührenden Modulation nach Es-Dur aufgelöst wird. Das zweite Thema, im Dialog zwischen Ober- und Unterstimmen breit entwickelt, greift auf Motive aus dem ersten zurück. Der Wechsel nach C-Dur wird durch ein Bratschensolo angezeigt, worauf die zweite Themengruppe wiederholt wird. Ganz am Ende kehren im Fortissimo die Grundtonart c-Moll und das Hauptthema wieder.
Die damit etablierte Spannung zwischen C-Dur und c-Moll wird im Menuett weiterentwickelt. Auf den verklingenden c-Moll-Schluß des Adagios folgt das C-Dur-Menuett in zartem sotto voce und mit einer sanft-fallenden Melodie. Der sorgfältige vierstimmige Satz dieses Menuetts zeigt, wie genau Rosetti die Streichquartette Haydns studiert hat. Das c-Moll-Trio schlägt elegische Töne an.
Der beeindruckendste Satz ist natürlich das Finale, das mit seinen orchestralen Klangeffekten, seinen atemlos hastenden Themen und seiner wilden Sforzato-Dynamik wie ein kammermusikalisches Gegenstück zu Rosettis großer g-Moll-Sinfonie wirkt. Das Hauptthema ist aus dem Beginn des Adagios abgeleitet, was dem Quartett insgesamt eine besondere Geschlossenheit verleiht, die durch den Pianissimo-Schluß noch unterstrichen wird.