Sechs Instrumentalsätze für zehn Bläser, Harfe und Gitarre nach Heinrich Isaac, “The world is discovered”
Werkverzeichnisnummer: 2648
1. Verse I
2. Chorus I
3. Verse II
4. Chorus II
5. Verse III
6. Chorus III
HARRISON BIRTWISTLE ist mit über 60 Jahren heute schon ein Senior der zeitgenössischen Musik in England. Vor neun Jahren wurde er von Königin Elisabeth II. zum Ritter geschlagen und fand damit Anerkennung für ein Lebenswerk, das sich vor allem im Bereich des Musiktheaters entfaltete.
Den Besuchern des von Benjamin Britten begründeten Aldeburgh Festivals wäre eine solche Karriere am Abend des 8. Juni 1968 wie ein Märchen vorgekommen. Die Uraufführung von Birtwistles Operneinakter Punch and Judy löste damals einen der größten Theaterskandale in der Geschichte Englands aus. Britten verließ unter Protest die Aufführung, Kritik und Publikum spalteten sich in feindliche Lager. Mit diesem denkwürdigen Abend zeichnete sich (nicht zufällig im 68er Jahr) ein Generationenwechsel in der englischen Musik ab: Die Komponisten der “Manchester Group” – Birtwistle und seine Studienfreunde Peter Maxwell Davis und Alexander Goehr – lösten die Generation von Britten und Vaughan Williams ab; die Neue Musik hielt in England Einzug.
Es ist wohl keine Übertreibung diesen Erdrutsch als das Werk eines Mannes zu bezeichnen: Harrison Birtwistle. Seine äußere Erscheinung und sein Kunstverständnis standen freilich stets in diametralem Gegensatz zu den Anforderungen einer feuilletonistischen Öffentlichkeit. Scheu und zurückgezogen lebt er in Frankreich, widmet sich dem Kochen und der Bildenden Kunst und schafft seine Musik nach rationalistischen Prinzipien, die sich gängigen Einordnungen widersetzen: “Zuallererst muß man eine Vorstellung von der Welt haben, die man erschaffen will. Für mich sind die Welten, die ich am meisten bewundere, mit denen ich mich am meisten identifiziere, jene von Künstlern wie Uccello, Piero della Francesca, Paul Klee. Als ich jung war, machte Piero einen gewaltigen Eindruck auf mich. Kennen Sie sein Gemälde mit dem Titel ‘Die Geißelung Christi’? Das Lyrische, Geheimnisvolle und Formbestimmte, das man darin findet, sind Qualitäten, die ich schon immer nachahmen wollte.”
Unser Beispiel aus Birtwistles Oeuvre unterstreicht seine Bewunderung für die Kunst um 1500. The World is Discovered für 10 Bläser, Harfe und Gitarre ahmt die Struktur der religiösen Gesänge des deutschen Renaissance-Meisters Heinrich Isaac nach. Es ist – wie ein Responsorium – aufgespalten in Verse für Soloinstrumente und Chorus-Abschnitte für das Tutti. Die Klangsprache ist freilich alles andere als rückwärtsgewandt, vielmehr frei dissonant und kompliziert in den rhythmischen Strukturen, dabei von Ferne an den Kontrapunkt der Renaissance erinnernd. Die Bläserbesetzung weist auf Birtwistles eigenes Instrument, die Klarinette, hin.