Quartett f-Moll für zwei Violinen, Viola und Violoncello, op. 55,2
Werkverzeichnisnummer: 2619
1. Andante più tosto allegretto
2. Allegro
3. Menuett. Allegretto
4. Presto
JOSEPH HAYDN faßte als erster Komponist die vielfältigen und unsystematischen Quartettformen des 18. Jahrhunderts zu einer verbindlichen Besetzung und zu einem einheitlichen Gattungsstil zusammen. Er gilt deshalb mit Recht als der Schöpfer des Streichquartetts. Um sich einen Überblick über sein vielfältiges Quartett-Oeuvre zu verschaffen, bedient man sich heute gerne der Opuszahlen, unter denen die Quartette zu Paaren, Dreier- oder Sechsergruppen zusammengefaßt sind. Verbindlich wurden diese Opera jedoch erst im 19. Jahrhundert. Zu Haydns Lebzeiten kümmerten sich die Verleger gewöhnlich noch nicht um die Opusnummern, unter denen dieselben Werke bei der Konkurrenz erschienen waren. Haydn selbst hatte an einer solchen Systematisierung durchaus kein Interesse, konnte er so doch unbemerkt Quartett-Opera unter dem Vorzeichen der Exklusivität gleichzeitig nach Paris, London und Wien verkaufen.
Dies war auch bei jenen sechs Quartetten der Fall, die man heute mit den Opuszahlen 54 und 55 bezeichnet. Haydn ließ sie durch einen Geiger der Hofkapelle in Esterházy, Johann Tost, nach Paris und Wien verkaufen, nachdem er zuvor bereits dem englischen Verleger Bland eine Abschrift mit auf den Weg nach London gegeben hatte, und zwar angeblich im Tausch gegen englische Rasiermesser. So will es jene Anekdote, der das zweite Quartett aus op. 55 – das f-Moll-Quartett unseres Programms – seinen englischen Beinamen The razor (Das Rasiermesser) verdankt:
“Als Bland Haydn aufsuchte, traf er ihn gerade vor dem Spiegel an, um sich zu rasieren. ‘Ach! Mr. Bland’ (rief er aus, denn er litt unter seinen eigenen Händen Höllenqualen), ‘hätte ich doch ein gutes Paar englischer Rasiermesser, mein bestes Quartett würde ich darum geben.’ Rasch eilte Bland in den nahe gelegenen Gasthof, holte seine eigenen Messer und übergab sie Haydn, der ihm hocherfreut dagegen ein gerade fertig gewordenes Quartett (Nr. 5 der Tostschen) übergab, das seitdem unter der Bezeichnung ‘Rasiermesser-Quartett’ bekannt ist.”
Irgendwelche tonmalerischen Bezüge zu dem Beinamen sind bis jetzt noch nicht herstellt worden, obwohl sich zumindest die zahlreichen Doppelschläge im zweiten Satz von op. 55, 2 als musikalische Figur dafür angeboten hätten. Ungewöhnlich an dem Quartett ist nicht nur die Schroffheit dieses Allegro-Satzes und die verbissene Strenge, mit der er an der Doppelschlag-Figur festhält; ungewöhnlich ist auch die gesamte Form.
Das Quartett beginnt ausnahmsweise nicht mit dem Allegro, sondern mit einem Andante, das die von Haydn besonders geliebte Form der Doppelvariationen aufweist: Dem Hauptthema in f-Moll steht ein zweites Thema in F-Dur gegenüber; beide werden sukzessive mit Verzierungen überlagert und auf diese Weise variiert. Das Allegro verharrt danach fast vollständig in f-Moll bis zur Reprise, die überraschend in Dur einsetzt. Menuett und Finale bleiben bei dem nunmehr etablierten F-Dur, während das Trio noch einmal zur Ausgangstonart zurückkehrt. Den zu Beginn exponierten Gegensatz zwischen Dur und Moll hat Haydn auf diese Weise über das ganze Quartett ausgedehnt. Neben dieser harmonischen Besonderheit sind noch manche Details der Satztechnik hervorzuheben, wie etwa das von der Bratsche eröffnete, streng kontrapunktische Menuett.