Ricercar a 6, BWV 1079 | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Johann Sebastian Bach

Ricercar a 6, BWV 1079

Ricercar a 6 aus Musicalisches Opfer , BWV 1079

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 2555

Satzbezeichnungen

Erläuterungen

BLÄSERQUINTETTE
Seit dem späten 17. Jahrhundert hat sich die Kammermusik für Holzbläser in Europa in großer Vielfalt der Besetzungen und Stile entwickelt, ohne daß es jemals zu einer ähnlichen „Systematisierung“ gekommen wäre, wie im Falle der Kammermusik für Streicher bzw. für Klavier und Streicher. Lediglich für die Quintett- und Triobesetzung entstanden im frühen 19. und frühen 20. Jahrhundert eigene Gattungen: das Bläserquintett in der Besetzung Flöte, Oboe, Klarinette, Horn und Fagott sowie das Trio d’anches aus Oboe, Klarinette und Fagott. Diese Besetzungen stehen im Mittelpunkt unseres heutigen Programms, wobei reizvolle Varianten ins Spiel kommen: Im Quintett wird die Oboe zeitweise durch das Englischhorn, die Flöte durch den Piccolo ersetzt. In Bachs Ricercar a 6 kommt eine Baßklarinette hinzu.
JOHANN SEBASTIAN BACH hat die Bläser zwar in seinen Brandenburgischen Konzerten und Kantaten in verschwenderischer Farbenpracht eingesetzt und in immer neuer Weise kombiniert, doch fehlen in seinem Oeuvre Kammermusikstücke, die diese Experimentierfreude widerspiegeln würden. (Entsprechende Triosonaten und Quartette in gemischten Bläserbesetzungen könnten verlorengegangen sein.) So greifen Bläserensembles heute notgedrungen auf Bearbeitungen zurück, und zwar besonders aus den kontrapunktischen Spätwerken – Musicalisches Opfer und Kunst der Fuge -, weil diese nicht an ein bestimmtes Instrumentarium gebunden zu sein scheinen. Das Ricercar a 6 aus dem Musicalischen Opfer ist ein Musterbeispiel für diesen Sachverhalt .
Bach hat diese Fuge in dem gedruckten Widmungsexemplar des Musicalischen Opfers, das er im Sommer 1747 zu Friedrich dem Großen nach Potsdam sandte, in Partitur notiert, so, als sei sie für sechs Instrumente bestimmt. In Wirklichkeit handelt es sich um ein Cembalostück, das nur deshalb in Partitur notiert wurde, um dem König die kunstvolle Kombination der sechs Stimmen deutlicher vor Augen zu führen, als es in Klaviernotation möglich gewesen wäre. Schließlich hatte der Preußenkönig selbst vom alten Bach bei dessen Potsdamer Besuch im Mai 1747 eine sechsstimmige Fuge über „sein“ königliches Thema verlangt. Spätere Generationen empfanden das Tasteninstrument für das Ricercare als Beschränkung. Anton von Webern orchestrierte es; zahlreiche Ensembles und Kammerorchester spielten „ihre“ Version des Satzes ein.
Ihre Rechtfertigung findet diese Bearbeitungspraxis letztlich im Stil der Fuge selbst. Sie knüpft an kontrapunktische Techniken der Palestrina-Zeit an, mit denen sich Bach in seinen letzten Lebensjahren intensiv beschäftigte. Wie ein Ricercar des 16. Jahrhunderts sowohl auf dem Virginal als auch von einem Gambenconsort gespielt werden konnte, so bleibt auch Bachs Fuge in der Schwebe. Der Titel Ricercare (original: Ricercar) deutet dabei auf eine freiere Fugentechnik hin, als man sie von Bach gewöhnt ist: Nach der ersten Durchführung wandert das Thema nie mehr durch alle sechs Stimmen, sondern tritt nur noch in einzelnen Stimmen als Cantus firmus auf, während die anderen neue Motive durchführen. Daß Bach hier ein Kompendium kontrapunktischer Techniken entfaltete, versteht sich von selbst, daß ihm aber ein feierlicher Gesang von erhabenem Pathos – ein zweites Confiteor – gelang, gehört zu den Wundern seines Spätwerks.

2000
BACH und die Drucker

Ein ganzes „Team“ von Meistern in der Kunst des Johannes Gutenberg, sprich: von Experten für Druckfragen, nahm Johann Sebastian Bach 1747 in Anspruch, um sein Musicalisches Opfer für Friedrich den Großen von Preußen zu Papier zu bringen. Es war erst das fünfte gedruckte Werk, das der Director musices und Thomaskantor zu Leipzig herausgab (nach den vier Teilen seiner Clavierübung), obwohl er schon über 60 und der berühmteste Cembalist und Organist Deutschlands war; Bach hatte freilich das Medium Notendruck nie so intensiv genutzt wie sein Hamburger Freund und Kollege Telemann. Erst in den letzten Lebensjahren und nach dem Beitritt zur Mizlerschen Sozietät der Korrespondierenden Wissenschaften hat der alte Thomaskantor in dieser Hinsicht eine fast schon hektische Betriebsamkeit entfaltet.

Die Aufgabe für Bachs Druckerteam war anspruchsvoll genug. Man bringe ein Werk zu Papier, das die unterschiedlichsten Teile umfasst, nämlich:
- eine Widmung, immerhin an den König von Preußen, den Sieger der beiden Schlesischen Kriege;
- zwei Fugen für Cembalo, im 18. Jahrhundert meist im Querformat geschrieben, die eine in Klaviernotation auf zwei Systemen, die andere zu sechs Stimmen und deshalb, der Übersichtlichkeit halber, in Partitur mit sechs Systemen notiert;
- eine Sonate für Flöte, Violine und Continuo, die in hochformatigen Einzelstimmen für die vier Spieler (der Continuo verteilte sich auf Cembalo und Cello) zu publizieren war;
- insgesamt zehn Kanons, die je nach Kompliziertheit in Kurzschrift oder bereits in der sogenannten „Auflösung“ zu notieren waren, und zwar überall dort, wo gerade Platz war.

Breitkopf, schon damals ein erfahrenes Druckhaus in Leipzig und von Bach häufig zum Druck seiner Kantatentexte herangezogen, übernahm die buchdruckerischen Elemente: den Titel und die Widmungsvorrede:

Musicalisches
Opfer
Sr. Königlichen Majestät in Preußen u.
allerunterthänigst gewidmet
von
Johann Sebastian Bach

Allergnädigster König,
Ew. Majestät weyhe hiermit in tieffster Unterthänigkeit ein Musicalisches Opfer, dessen edelster Theil von Deroselben hoher Hand selbst herrühret. Mit einem ehrfurchtsvollen Vergnügen erinnere ich mich annoch der ganz besondern Königlichen Gnade, da vor einiger Zeit, bey meiner Anwesenheit in Potsdam, Ew. Majestät selbst, ein Thema zu einer Fuge auf dem Clavier mir vorzuspielen geruheten, und zugleich allergnädigst auferlegten, solches alsobald in Deroselben höchsten Gegenwart auszuführen. Ew. Majestät Befehl zu gehorsamen, war meine unterthänigste Schuldigkeit. Ich bemerkte aber gar bald, daß wegen Mangels nöthiger Vorbereitung, die Ausführung nicht also gerathen wollte, als es ein so treffliches Thema erforderte. Ich fassete demnach den Entschluß, und machte mich sogleich anheischig, dieses recht Königliche Thema vollkommener auszuarbeiten, und sodann der Welt bekannt zu machen. Dieser Vorsatz ist nunmehro nach Vermögen bewerkstelliget worden, und er hat keine andere als nur diese untadelhafte Absicht, den Ruhm eines Monarchen, ob gleich nur in einem kleinen Puncte, zu verherrlichen, dessen Größe und Stärke, gleich wie in allen Kriegs= und Friedens=Wissenschaften, also auch besonders in der Musik, jedermann bewundern und verehren muß. Ich erkühne mich dieses unterthänigste Bitten hinzuzufügen: Ew. Majestät geruhen gegenwärtige wenige Arbeit mit einer gnädigen Aufnahme zu würdigen, und Deroselben allerhöchste Königliche Gnade noch fernerweit zu gönnen
Ew. Majestät allerunterthänigst gehorsamten Knechte, dem Verfasser

Ein noch recht unerfahrener Notenstecher aus der Nähe von Leipzig namens Schübler, den Bach wenig später durch sechs bei ihm publizierte Orgelchoräle unsterblich machen sollte, übernahm den musikalischen Stich zusammen mit seinem Bruder, wobei der Aufwand an seltsamen Notationsarten insbesondere in den Kanons erheblich war. Die Schüblers leisteten, von ein paar Schnitzern abgesehen, gute Arbeit.

BACH und die Kunden

Der Leser mag sich fragen, warum wir all dies hier so detailliert referieren und das Tier beim Schwanze aufsäumen, sprich: die Geschichte des Musicalischen Opfers vom gedruckten Ergebnis her erzählen statt vom glorreichen Beginn, Bachs Besuch bei Friedrich II. Nun, zum einen wurde diese Einführung in Mainz geschrieben, der Stadt Gutenbergs, und in der erklärten Absicht, eine Brücke zwischen dem „man of the milennium“ und Bach zu bauen. Zum anderen ist das Musicalische Opfer bis heute auch ein Opfer mangelnden Verständnisses oder wilder Spekulationen, die zum Großteil jener unübersichtlichen Form zuzuschreiben sind, in der es publiziert wurde. In dieser Form nämlich konnte Bach keine endgültige Reihenfolge der Teile festlegen; sie blieb, fast wie in einer aleatorischen Komposition heute, offen. Das hat zu den interessantesten Spekulationen über die „wahre“ Reihenfolge geführt. Von musikalischen Gesichtspunkten bis hin zur Rhetoriklehre des Quintilian wurden dafür die unterscheidlichsten Anhaltspunkte gesucht, aber mit letzter Überzeugungskraft noch nicht gefunden.

Wenn man sich die eingangs erwähnte aufführungspraktische Anlage des Druckwerks vor Augen führt, muss dies nicht verwundern. Nehmen wir an, wir seien zur Michaelismesse 1747 in Leipzig eingetroffen, hätten in der Zeitung die Ankündigung des Bachschen Druckwerkes gelesen, hätten die Kantorenwohnung in der Thomasschule aufgesucht und das Werk dort bei Frau Anna Magdalena, Herrn Directori musices selbst oder seinem Söhnchen Christian für einen Taler erstanden. Zuhause angekommen, hätten wir in dem Umschlag mit Titel und Widmung Dinge gefunden, die sofort auf diverse Notenpulte gewandert wären, ohne dass wir dabei an eine „Reihenfolge“ überhaupt nur gedacht hätten.

Das erste Ricercar zu drei Stimmen hätten wir gleich aufs Cembalo gelegt: dreistimmig, in Klaviernotation und dadurch relativ leicht zu lesen, wäre es für uns nach ein wenig Üben spielbar gewesen. Im zweiten Umschlag hätten wir dann das sechsstimmige Ricercar gefunden, dessen Partitur wir erst einmal in Ruhe gelesen hätten, bevor wir uns an die Ausführung (zu sechs Stimmen mit nur zehn Fingern!) gewagt hätten. Die Kanons links, rechts und unterhalb vom Ricercar a 6 hätten wir erst einmal ignoriert und zu näherem Studium auf den Schreibtisch gelegt. Im Umschlag Nummer drei hätten wir alsdann die Stimmen der Triosonate gefunden, die – in der Vorfreude auf Freund a mit seiner Traversflöte, Freund b mit der Geige und Freund c mit dem Cello – schon einmal auf deren Notenpulte verteilt worden wären. Vielleicht hätten wir es auch ratsam gefunden, die reichlich kompliziert aussehende Bezifferung der Bass-Stimme vor der ersten gemeinsamen Musizierstunde in Ruhe in die entsprechenden Akkorde umzusetzen, was unsere Neugier über die kontrapunktischen Künste der beiden Oberstimmen nur noch mehr geweckt hätte.

Mit den Kanons hätten wir uns in Mußestunden beschäftigt, sie eingehend studiert, um sie „aufzulösen“, vielleicht auch den ein oder anderen in Stimmen ausgeschrieben, um ihn mit unseren Freunden durchzuspielen – als Plaisir und als intellektuelle Herausforderung. All dies hätte der Originaldruck ohne weiteres zugelassen, praktisch angelegt und schön gestochen.
Was der Druck nicht zulässt, ist eine moderne Konzertaufführung, schon gar nicht eine vollständige. Moderne Interpreten müssen die Hilfe von Herausgebern in Anspruch nehmen, um die Kanons spielen und eine Reihenfolge bestimmen zu können. Sie sollten dann freilich nicht behaupten, dass diese Reihenfolge von Bach beabsichtigt war. Bachs Absicht lag nach seinen eigenen Worten einzig und allein darin „den Ruhm eines Monarchen“, der als Musikkenner bekannt war, „ob gleich nur in einem kleinen Pucte zu verherrlichen“ und sein „recht Königliches Thema … der Welt bekannt zu machen“. Das Musicalische Opfer ist eine Herrscherhuldigung, ausgelöst durch ein ausbündig schönes Thema aus Friedrichs eigener Feder.

BACH und der König

Friedrich der Große war stolz auf seine künstlerischen Inspirationen. Vom Berliner Opernhaus (der heutigen Staatsoper unter den Linden) ließ er allenthalben verkünden, dass der Grundriss des Gebäudes seine königliche Idee war, wie auch viele Opernlibretti, die dort später mit Musik von Graun erklangen vom König selbst verfasst wurden. Den Grundriss für Schloss Sanssouci gab er seinem Architekten Knobelsdorff minutiös vor, ja er skizzierte sogar Häuserfassaden für die neuen Straßenzüge der Residenzstadt Potsdam. Von keinem Geringeren als Voltaire ließ Friedrich seine französischen Gedichte redigieren, von seinem Flötenlehrer Quantz seine Flötensonaten und -konzerte verbessern. Und mit den Kastraten seiner Hofoper übte er den rechten Vortrag des Adagios.

Mit dem gleichen Selbstbewusstsein gab Friedrich im Mai 1747 dem alten Bach ein Fugenthema auf dem Fortepiano an, das dieser geflissentlich Ton für Ton zu übernehmen hatte. Eine Abweichung von seinen Vorgaben wäre für den Feldherrn und König unannehmbar gewesen. Wir dürfen davon ausgehen, dass Friedrich seinem Besucher aus Leipzig das Thema just so vorspielte, wie es in den beiden Ricercari notiert ist.

Bach dürfte ein wenig gestutzt haben, handelt es sich doch um ein chromatisches Thema mit unregelmäßiger Periodik, dessen zwei Teile, ein gebraochener c-Moll-Dreiklang mit anschließender verminderter Sept und ein chromatischer Abstieg zur Kadenz, nicht in einem symmetrischen Taktverhältnis zueinander stehen. Wenn es stimmt, was der Nekrolog auf Bach berichtet (die originalen Zeitungsmeldungen wissen davon nichts), so verlangte Friedrich über dieses Thema nicht nur die Improvisation einer dreistimmigen Fuge, sondern ebenfalls bereits einer sechsstimmigen. Bach konnte diese Aufgabe eben wegen der Unregelmäßigket des Themas nicht lösen. In dem später in Leipzig komponierten Ricercar a 6 vermochte er eine zweimalige Durchführung des Themas durch alle sechs Stimmen nur mit äußerster Kunstfertigkeit im Rahmen eines monumentalen Tonartenplans zu entwickeln – keine Aufgabe, die ex improviso zu lösen war, sondern fast schon ein Denksport und jedenfalls eine gewaltige Gedankenleistung.

In Potsdam soll Bach anstelle der sechsstimmigen Fuge über das Königliche Thema eine solche über ein eigenes Thema improvisiert und den König auf eine spätere Ausarbeitung seines Themas vertröstet haben. Durch die schon damals hellwache Presse wurde dieses Versprechen bald in ganz Norddeutschland publik, das heißt: Bach war im Zugzwang und musste so schnell wie möglich die versprochene Ausarbeitung liefern, ging es doch um den Ruhm eines Monarchen, der die Leipziger im zweiten Schlesischen Krieg 1745 deutlich hatte spüren lassen, wie erfahren er in den „Kriegswissenschaften“ war. Auf eine Verherrlichung seiner Kenntnisse in den „Friedenswissenschaften, insonderheit in der Music“ durfte man Friedrich nicht zu lange warten lassen. Bach hat denn auch das gedruckte Werk bereits zur Herbstmesse 1747 nach Potsdam expediert. Er soll vom König dafür nicht die Spur einer Belohung erhalten haben, was zum auch anderweitig belegten Geiz Friedrichs auswärtigen Musikern gegenüber passen würde.

Die Ausarbeitung in den erwähnten diversen Teilen ergibt einen wohl proportionierten Ruhmestempel für einen König. Zum einen schickte ihm Bach die in Potsdam improvisierte Fuge (das Ricercar a 3), dann die „bestellte“ sechsstimmige Fuge, die Triosonate appellierte an den Flötenspieler Friedrich und seine Vorliebe für ausdrucksstarke Adagiosätze. Die Kanons waren ein zwar willkürlich über die Druckseiten verstreutes, nichtsdestotrotz ausgeklügeltes „Widmungsgedicht“ an Friedrich, den komponierenden König.

Solche Kanons pflegte man Freunden ins Stammbuch zu schreiben – zur Auflösung durch den kundigen Leser. Bach tat dies in seiner Spätzeit häufig, oft verbunden mit lateinischen Motti, so auch im Falle der Kanons für Friedrich. Dem Kanon in der Vergrößerung fügte er den Satz hinzu: Notulis crescentibus crescat Fortuna Regis („Mit den wachsenden Noten wachse das Glück des Königs“), dem folgenden, durch die Tonarten wandernden Kanon fügte er hinzu: Ascendeteque Modulatione ascendat Gloria Regis („Und mit der aufsteigenden Modulation steige der Ruhm des Königs“). Und im Kanon nach dem Ricercar a 6 ließ er das Zeichen für den Einsatz der zweiten Stimme weg mit dem Hinweis Quaerendo invenietis (Suchet, dann werdet ihr finden). Was die Anordnung der Kanons betrifft, ist zu bemerken, dass sie, wie diejenigen der Goldbergvariationen, in den Intervallen aufsteigen: zwei Kanons im Einklang, einer in der Unterquart, zwei in der Oberquint, Fuga canonica in der Oberquint, Rätselkanon in der Untersept, zwei Oktavkanons. Auch hier herrscht mehr Ordnung, als es der Erstdruck nahelegt.