Sonate B-Dur für Klavier, D 960
Werkverzeichnisnummer: 2546
1. Molto moderato
2. Andante sostenuto
3. Scherzo. Allegro vivace con delicatezza
4. Allegretto ma non troppo
„Die Tonkunst begrub hier einen reichen Besitz, aber noch viel schönere Hoffnungen.“ Franz Grillparzers Grabinschrift für Franz Schubert spiegelt nicht nur den Respekt der Musikwelt vor einem jung verstorbenen Genie allgemein, sondern auch die Situation in Schuberts letztem Lebensjahr im Besonderen wider. 1828 hatte sich der Wiener Compositeur gerade angeschickt, eine weithin anerkannte musikalische Größe seiner Heimatstadt zu werden. Er zog, zunehmend auch „im Auslande“, sprich: in Deutschland und England, die Aufmerksamkeit der Musikverlage, der Fachpresse und des Publikums auf sich. Der Mainzer Schott-Verlag ersuchte ihn um Werke, die führende deutsche Musikzeitschrift widmete ihm begeisterte Rezensionen, und in Wien erlebten seine größeren Instrumentalwerke, nicht mehr nur seine Lieder, erfolgreiche Aufführungen. Als Schubert am 19. November 1828 im Alter von 31 Jahren starb, begrub die Tonkunst die schöne Hoffnung, in ihm den Nachfolger Beethovens begrüßen zu dürfen – nicht mehr und nicht weniger.
Die letzten drei Klaviersonaten, vollendet im August 1828, sind jene Werke, in denen sich Schuberts Rolle als Nachfolger der Klassiker am deutlichsten bekundet, zugleich aber auch der ureigene, tief persönliche Ton des Komponisten am klarsten ausspricht. Der besondere Rang dieses Zyklus als eines kompositorischen Vermächtnisses wurde schon 1838 von Robert Schumann in einem Artikel über „Franz Schubert’s letzte Compositionen“ angesprochen. Für Schumann waren sie dort angesiedelt, „wo die Phantasie durch das traurige ‚Allerletzte‘ nun einmal vom Gedanken des nahen Scheidens erfüllt ist“. Die erhaltenen Skizzen beweisen allerdings, dass sich Schubert ungewöhnlich lange mit diesen Sonaten beschäftigte, sie also schon skizziert hatte, lange bevor im September 1828 erste Anzeichen seiner Todeskrankheit auftraten. Tod und Trauer, wie sie aus den Mittelsätzen und den Durchführungspartien dieser Werke zu sprechen scheinen, gehörten vielmehr seit seiner Jugend zu seinen bevorzugten Themen, die nicht unmittelbar mit dem eigenen Schicksal verknüpft waren. Außerdem sollte man die Züge zum Grotesken und Doppelbödigen in diesen späten Werken nicht verkennen.
Die letzten drei Sonaten sind dennoch eine Art kompositorisches Vermächtnis, nämlich die Krönung von Schuberts lebenslanger Auseinandersetzung mit der Gattung Klaviersonate. Dem Musikkritiker Schumann erschienen sie „auffallend anders als seine andern (Sonaten), namentlich durch viel größere Einfachheit der Erfindung, durch ein freiwilliges Resignieren auf glänzende Neuheit … Als könne es gar kein Ende haben, nie verlegen um die Folge, immer musikalisch und gesangreich rieselt es von Seite zu Seite weiter, hier und da durch einzelne heftigere Regungen unterbrochen, die sich aber schnell wieder beruhigen.“ Schumann verkannte erstaunlicherweise die Gebrochenheit in vielen Passagen dieser scheinbar so eingängigen Werke.
Die B-Dur-Sonate, D 960, ist die letzte der drei späten Sonaten und deshalb dasjenige Klavierwerk Schuberts, das am meisten vom Nimbus eines „Schwanengesangs“ umgeben ist. Die Sonate wurde von Georgji als „die Krone von Schuberts Klavierschaffen, … die schönste, die nach Beethoven geschrieben worden ist“, bezeichnet.
Der erste Satz in der für Schubert typischen ausgedehnten Sonatenform mit drei Themen ist„einer der längsten und stillsten seines gesamten Sonatenschaffens“ (Malvin Berger). Verhalten, fast zögernd setzt eine lyrische B-Dur-Weise ein, die plötzlich von einem tiefen Triller unterbrochen wird – eine Art geheimnisvoller Trommelwirbel, wie er auch im Credo von Schuberts letzter Messe, der großen Es-Dur-Messe aus dem gleichen Jahr, vorkommt. Man meint an beiden Stellen ein Erschüttern vor dem Geheimnis des Göttlichen zu spüren. Ebenso orchestral empfunden isind das eigentliche Hauptthema, eine in hoher Lage wie von den Streichern gesungene Melodie, und das Seitenthema mit seiner durch die Stimmen wandernden, klagenden Weise. Die großen Steigerungen der Durchführung erinnern an das zur gleichen Zeit komponierte Streichquintett.
Das Andante sostenuto treibt die für den späten Schubert so charakteristische Verlangsamung des harmonischen Rhythmus auf die Spitze. Obwohl es nicht viel mehr ist als „die zart verschwebende Zerstäubung eines Orgelpunkttones“ (Ernst Kurth), hebt es das Zeitempfinden des Hörers praktisch auf. Die ostinaten rhythmischen Figuren und die typischen Terzverwandtschaften der Schubertschen Harmonik tragen das Ihre dazu bei.
Der dritte Satz bringt zu den betont ruhigen und sehr ausgedehnten ersten Sätzen einen lebhaften Kontrast. Es ist ein leichtfüßiges Scherzo, con delicatezza zu spielen, mitunter sogar von Anklängen an die Musik Carl Maria von Webers durchzogen, dessen Freischütz Schubert bewunderte. Das b-Moll-Trio setzt dazu in nur 32 Takten einen stillen, versonnenen Kontrapunkt.
Das Rondo beginnt scheinbar in der falschen Tonart mit einem akzentuierten G, woran sich ein eigenartig penetrantes Tanzthema in c-Moll anschließt. Erst nach acht Takten findet es seinen Weg nach B-Dur und zu einer munter trällernden Melodie, die einem der fröhlicheren Wanderlieder Schuberts zu entstammen scheint. Diesem so tanzseligen Beginn ist kaum anzuhören, zu welchen Dimensionen sich dieser Satz in mehr als 500 Takten weitet. Er vermittelt zwischen der etwas verbissenen Heiterkeit seines Rondothemas und dem sublimen Stil der ersten beiden Sätze in den Episoden der Rondoform. Diese ist wieder – wie immer beim späten Schubert – in ein hypertrophes Monumentalrondo ausgedehnt.