Fantasie für Streichsextett, „Der junge Törless“ (1965)
Werkverzeichnisnummer: 2511
1. Adagio – Tempo eines Trauermarsches
2. Allegro marcato
3. Air – Pastorale – Air
4. Vivace – Epilogo. Adagio
Hans Werner Henzes Blick auf seine eigene Jugend im Ruhrpott der 30er-Jahre ist von keinerlei Nostalgie geprägt. Der eher verschlossene Altmeister der Neuen Musik in Deutschland, der seit Jahrzehnten in Italien lebt, erzählte Alfred Biolek vor einigen Jahren von einer entbehrungsreichen Jugend, die seinen Lebensweg nachhaltig geprägt habe. Sein Engagement als „bekennender“ Sozialist, seine Gründung eines Festivals für die einfachen Menschen im toskanischen Montepulciano, seine Initiative für junge Komponisten in der Münchner Biennale – dies alles zeugt vom sozialen Engagement eines Musikers, der die Nöte der Jugend selbst kennenlernte.
Das schönste Dokument dafür ist Henzes Streichsextett nach Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Henze nannte das Stück „Fantasie“, da es auf Motive einer Filmmusik zurückgreift, ähnlich wie Wagners Siegfried-Idyll auf Opernmotive. Durch seine Verwurzelung im links-intellektuellen Milieu der 60er-Jahre war Henze auch in Kontakt zu den Filmemachern des damaligen „Jungen Deutschen Films“ gekommen, daunter Volker Schlöndorff. Für Schlöndorffs Musil-Verfilmung Die Leiden des jungen Törleß komponierte er 1965 eine Filmmusik, die er nachträglich zum Streichsextett umwandelte, übrigens in der ungewöhnlichen Besetzung mit drei Violinen, zwei Bratschen und Violoncello.
In Robert Musils Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß geht es „um Bewwusstseinsspaltung und Erkenntnisprozesse junger Menschen… Die Geschichte spielt vor dem ersten Weltkrieg in einem vornehmen Landschulheim an der österreichisch-ungarischen Grenze. Basini wird von seinen Mitschülern beim Diebstahl ertappt und auf sadistische Weise missbraucht. Der junge, bleiche Törless ist Zuschauer; seinen kaltkalkulierenden Verstand reizen die Reaktionen des Misshandelten.“ (Rororo Filmlexikon)
Wer Schlöndorffs Erstlingsfilm kennt, weiß, wie eng seine morbide Atmosphäre – das Sinnbild einer bedrückenden Jugend in der ausgehenden k. k. Monarchie – aus dem Zusammenwirken verschiedener Faktoren entsteht: aus den eindringlichen Schwarzweißbildern, der düster-eindrucksvollen Kulisse des Grazer Schlosses Eggenberg, der stillen Schauspielkunst eines Matthieu Carriere und der Musik Henzes. In dem Streichsextett kommt diese Atmosphäre auch ohne die begleitenden Bilder zum Ausdruck. Seine formale Anlage lässt die Vergangenheit als Filmmusik noch erahnen, denn es handelt sich trotz der scheinbaren Viersätzigkeit um eine „Fantasie“.