“Phantasy Quartet” für Oboe und Streichtrio, op. 2
Werkverzeichnisnummer: 2356
Andante alla marcia – Andante – Tempo primo
BENJAMIN BRITTEN begann seinen kompositorischen Lebensweg ungleich spektakulärer als sein von Selbstzweifeln gequälter Kollege Walton, der “Ben Britten” zeitlebens um die Leichtigkeit beneidete, mit der er seine Kompositionen entwarf.
In keiner Gattung der klassischen Musik spielen private Auftraggeber eine so große Rolle wie in der Kammermusik. Zahllose Meisterwerke des Genres sind im Auftrag von fanatischen Kammermusik-“Fans” entstanden, die es sich leisten konnten, bei Mozart, Haydn, Strawinsky oder Henze ein Werk zu bestellen.
Der englische Industrielle Walter Wilson Cobbett war ein solcher Kammermusik-Liebhaber. Man sagte ihm nach, mehr Zeit auf die Musik zu verwenden als auf seine gut gehenden Geschäfte. Er spielte selbst begeistert die Violine und konnte es sich leisten, sowohl einen eigenen Kammermusikführer herauszugeben als auch einen Kammermusikpreis ins Leben zu rufen. Letzterer diente der Wiedergeburt des traditionsrecichsten Genres englischer Kammermusik: der Phantasy. Jene Gattung altenglischer Gambenmusik, die man heute fast nur noch durch Henry Purcells 15 “Fantazias” kennt, wollte Cobbett auf die moderne englische Kammermusik übertragen. Also rief er 1911 einen Preis ins Leben. Die Wettbewerbsaufgabe war in jedem Jahr die gleiche: ein einsätziges Kammermusikstück in der Tradition der englischen Streicherfantasien des 16. und 17. Jahrhunderts zu schreiben.
Auf der Liste der Preisträger findet man alle großen Namen der englischen Musik des 20. Jahrhunderts, so auch Benjamin Britten. 1932, als gerade mal 18jähriger Absolvent des Royal College of Music, gewann er den Preis für sein sogenanntes Phantasy -Quartett für Oboe und Streicher. Man kann das Werk als Archetyp aller über die Jahrzehnte für den Cobbett-Wettbewerb komponierten Phantasies verstehen. Die Vision des Wettbewerbsstifters war, wie es Peter Evans in seinem Standardwerk über Brittens Musik beschrieb, “eine Synthese aus der großen englischen Fantasientradition und den Sonatenexperimenten der Romantik.” Genau dies gelang dem jungen Britten mit seinem Quartett. Es “bildet einen einzigen Bogen, dessen Anfang eine Sonatenform umrahmt, zugleich aber in einem beredten langsamen Satz aufblüht, der zwischen Durchführung und Reprise der Sonatenform eingeschoben ist.”
Experimente mit Mehrsätzigkeit in der Einsätzigkeit waren seit Mitte des 19. Jahrhunderts üblich. Hier verbinden sie sich mit den harmonischen und melodischen Reizen einer unverkennbar britischen Musik. Den modernen Hörer wird diese Klangaura und die unverwechselbare Harmonik vielleicht mehr reizen als die formale Qualität des Werkes. Um den eigenartigen Beginn zu charakterisieren, sprach Evans von “kryptischen Marschrhythmen” der Streicher, denen ein “lyrischer Impuls” der Oboe gegenübertritt. Diese Antithese wird zunächst entwickelt, bis sich die starren Rhythmen der Streicher allmählich in arabesk wuchernde Figuren auflösen, an denen die Oboe lebhaften Anteil nimmt. Der Einfluaa der späten Kammermusik von Claude Debussy ist in diesem Abschnitt ebenso wenig zu überhören wie der typisch englische Charakter des Mittelteils. “Brittens Bereitschaft, seine englische Umgebung wahrzunehmen, zeigt sich ebenso in der Hingabe, mit der er im Andante-Mittelteil pastoralen Stimmungen fröhnt, wie in der Art, in der er die Oboe ihrem natürlichen Hang zu rhapsodischen Melismen nachgeben läßt.” (Evans) Die veränderte Wiederkehr des Anfangs rundet das viertelstündige Werk wirkungsvoll ab.
2002/3
BENJAMIN BRITTEN
Phantasy für Oboe und Streicher
In keiner Gattung der klassischen Musik spielen private Auftraggeber eine so große Rolle wie in der Kammermusik. Zahllose Meisterwerke des Genres sind im Auftrag von fanatischen Kammermusik-“Fans” entstanden, die es sich leisten konnten, bei Mozart, Haydn oder Strawinsky ein Werk zu bestellen. Der englische Industrielle Walter Willson Cobbett war ein solcher Liebhaber. Man sagte ihm nach, mehr Zeit auf die Musik zu verwenden als auf seine gut gehenden Geschäfte. Er spielte selbst begeistert die Violine und konnte es sich leisten, sowohl einen eigenen Kammermusikführer herauszugeben als auch einen Kammermusikpreis ins Leben zu rufen.
Letzterer diente der Wiedergeburt des traditionsreichsten Genres englischer Musik: der Phantasy. Jene Gattung elisabethanischer Gambenmusik, die man heute fast nur noch durch Henry Purcells barocke “Fantazias” kennt, wollte Cobbett auf die moderne englische Kammermusik übertragen. Also rief er einen Preis ins Leben, dessen einzige Wettbewerbsaufgabe darin bestand, in jedem Jahr neue einsätzige Kammermusik-Stücke in der Tradition der englischen Streicherfantasien des 16. und 17. Jahrhunderts einzureichen.
Auf der Liste der Preisträger, die über die Jahrzehnte hinweg bei diesem Wettbewerb ausgezeichnet wurden, findet man alle großen Namen der englischen Musik des 20. Jahrhunderts, so auch Benjamin Britten. 1932, als gerade mal 18jähriger Absolvent des Royal College of Music, gewann er den Preis für sein sogenanntes Phantasy-Quartett für Oboe und Streicher. Man kann das Werk als Archetyp aller für den Cobbett-Wettbewerb komponierten Phantasies verstehen.
Die Vision des Wettbewerbsstifters war, wie es Peter Evans in seinem Standardwerk über Brittens Musik beschrieb, “eine Synthese aus der großen englischen Fantasientradition und den Sonatenexperimenten der Romantik.” Genau dies gelang dem jungen Britten mit seinem Quartett. Es “bildet einen einzigen Bogen, dessen Anfang eine Sonatenform umrahmt, zugleich aber in einem beredten langsamen Satz aufblüht, der zwischen Durchführung und Reprise der Sonatenform eingeschoben ist.”
Den modernen Hörer wird die Klangaura und die unverwechselbare Harmonik des Quartetts vielleicht mehr reizen als jene formale Qualität der einsätzigen Phantasy mit dreisätziger Binnengliederung. Um den eigenartigen Beginn zu charakterisieren, sprach Evans von “kryptischen Marschrhythmen” der Streicher, denen ein “lyrischer Impuls” der Oboe gegenübertritt. Diese Antithese wird zunächst entwickelt, bis sich die starren Rhythmen der Streicher allmählich in arabesk wuchernde Figuren auflösen, an denen die Oboe lebhaften Anteil nimmt. Der Einfluss der späten Kammermusik von Claude Debussy ist in diesem Abschnitt ebenso wenig zu überhören wie der typisch englische Charakter des Mittelteils: “Brittens Bereitschaft, seine englische Umgebung wahrzunehmen, zeigt sich ebenso in der Hingabe, mit der er im Andante-Mittelteil pastoralen Stimmungen fröhnt, wie in der Art, in der er die Oboe ihrem natürlichen Hang zu rhapsodischen Melismen nachgeben läßt.” (Evans) Die veränderte Wiederkehr des Anfangs rundet das viertelstündige Werk wirkungsvoll ab.