"Conte Fantastique" | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

André Caplet

"Conte Fantastique"

„Conte Fantastique“ für Harfe, zwei Violinen, Viola und Violoncello

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 2180

Satzbezeichnungen

Erläuterungen

Zu den Pariser Konzertsälen des 19. Jahrhunderts, die bis heute die Atmosphäre des „Fin de siècle“ bewahrt haben, gehört auch die Salle Erard. Im Kern noch aus dem 18. Jahrhundert stammend, wurde sie im 19. Jahrhundert umgebaut und erst vor kurzem als Kongresszentrum wieder eröffnet. Zentral zwischen Börse und Place des Victoires gelegen, wurde sie in der Romantik dank der Firma Erard und ihrer erlauchten Gäste aus dem Kader der Klaviervirtuosen zu einem Zentrum der Klavierabende in Paris – in steter Konkurrenz zur Salle Pleyel. Anfang des 20. Jahrhunderts erweiterte sich diese Konkurrenz auch auf Musik für Harfe, denn beide Firmen hatten ihre jeweils eigene Variante einer chromatischen Harfe konstruiert.

Im Dezember 1923 erklang in der Salle Erard zum ersten Mal ein Stück, das außer zur Unterhaltung des Publikums auch dazu diente, die technischen Errungenschaften der „Erard-Harfe“ zu propagieren: André Caplets Conte fantastique für Harfe und Streichquartett. Der Komponist hatte den Solopart ursprünglich für den älteren Harfentyp der Firma Pleyel komponiert, doch später für die klanglich reichere Erard-Harfe arrangiert.

Unter den Zeitgenossen von Ravel und Debussy war André Caplet eine der glänzendsten Begabungen. In Le Havre geboren, gewann er schon mit neun Jahren den ersten Preis des Musikwettbewerbs seiner Heimatstadt, wurde mit zwölf Jahren Geiger im Theaterorchester und mit 18 Student am Conservatoire in Paris. Als Dirigent war er Schüler von Arthur Nikisch in Berlin und bald international gefragt. So leitete er neben mehreren Konzertreihen in Paris von 1910 bis 1914 auch das Opernhaus in Boston. Als Komponist gewann er 1901 – noch vor Maurice Ravel, der damals nur den 3. Preis errang – den Prix de Rome, den Kompositionspreis des Pariser Conservatoire, der mit einem Romstipendium verbunden war.

Seiner steilen Karriere als Dirigent und Komponist setzte der Erste Weltkrieg ein abruptes Ende: Nachdem er sich als Freiwilliger gemeldet hatte, geriet er in einen deutschen Giftgasangriff. Die gesundheitlichen Folgen waren so verheerend, dass er die Anstrengungen seines Berufs nicht mehr verkraftete und den Dirigentenstab an der Pariser Oper und in den Lamoureux-Konzerten niederlegte. Fortan konzentrierte er sich ganz aufs Komponieren und ging seinen eigenen Weg zwischen poetischen französischen Liedern, origineller Kammermusik und Werken eines christlichen Mystizismus. Vorbild blieb für ihn zeitlebens sein Freund Debussy, dessen Martyre de Saint-Sébastien Caplet zum Teil instrumentiert hat. Allzu früh starb er, gesundheitlich schwer gezeichnet, 1925.

Mit dem Conte fantastique schuf Caplet eines der originellsten Kammermusikstücke des Impressionismus, handelt es sich doch um eine musikalische Nacherzählung der Novelle Die Maske des roten Todes von Edgar Allan Poe. Der Titel Fantastische Erzählung wird sowohl der Aura der Vorlage als auch der Musik Caplets vollauf gerecht. Poe veröffentlichte seine Erzählung The Mask of the Red Death zuerst 1842 in Graham’s Magazine. Der Inhalt ist folgender: „In einem Land, das von einer schrecklichen Seuche – dem Roten Tod – verwüstet wird, zieht sich Prinz Prospero in eine entlegene Burg zurück, um sich und seine Freunde zu retten. Mit 1000 Rittern und Damen verbringt er mehrere Monate in auserlesenen Vergnügungen. Bei einem Maskenball in der fürstlichen Suite mischt sich unter die fantastisch gekleideten Höflinge ein Unbekannter in der Maske des Roten Todes. Als der Prinz versucht, ihn niederzustechen, stirbt er; die anderen stellen entsetzt fest, dass der Unbekannte keinen Körper hat. Zu spät erkennen sie, dass es der Rote Tod selbst ist; als es Mitternacht schlägt, sterben sie: ‚and Darkness and Decay and the Red Death held illimitable dominion over all.‘ [Und Dunkelheit und Verfall und der Rote Tod übten unbegrenzte Macht aus über alles.]“ (The Oxford Companion to American Literature)

Caplet hat in diesem gespenstischen Werk offenbar seine eigenen Kriegserlebnisse aus dem Ersten Weltkrieg verarbeitet. Ein düsteres Harfensolo eröffnet das einsätzige Werk. Das Thema symbolisiert, wie man ganz am Ende hören wird, den roten Tod, dessen Schreckensregiment zu Beginn geschildert wird. Die Kamera schwenkt hinüber ins Schloss des Prinzen Prospero, wo wir die Ritter und Damen im wilden Treiben des Maskenballs erleben. Die schaurige Erscheinung der Maske des roten Todes ist ebenso unüberhörbar wie die zwölf Glockenschläge der Mitternacht. Danach verwandelt sich die Szenerie und kehrt zu den fahlen, gespenstischen Klängen des Beginns zurück. Poes oben zitierter Schluss wird im pointierten Ende des Werkes auf schauerliche Weise deutlich.