Cellosonate D-Dur, op. 102,2 | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Ludwig van Beethoven

Cellosonate D-Dur, op. 102,2

Sonate D-Dur für Klavier und Violoncello, op. 102,2

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 221

Satzbezeichnungen

1. Allegro con brio

2. Adagio con molto sentimento d’affetto

3. Allegro – Allegro fugato

Erläuterungen

Ludwig van Beethoven hat fünf Cellosonaten geschrieben, die sich exemplarisch auf die drei Phasen seines Schaffens verteilen: Die beiden Sonaten des Opus 5 sind typische Frühwerke des jungen, provokanten Klaviervirtuosen, die große A-Dur-Sonate Opus 69 zählt zu den Hauptwerken des „mittleren Beethoven“, während die beiden Sonaten Opus 102 die späte Stilphase einläuten. Wie so viele „Spätwerke“ des Meisters lösten auch diese beiden Cellosonaten bei den Zeitgenossen Irritation und Befremden aus. Zu kapriziös wirkten sie in ihrer thematischen Substanz, zu eigenwillig in der formalen Anlage, zu streng und hermetisch in ihrem Kontrapunkt. Sie seien „beim ersten Hören ohnmöglich (zu) verstehen“, schrieb der Mannheimer Kapellmeister Michael Frey in sein Tagebuch, nachdem er 1815 in Wien der Uraufführung beigewohnt hatte.

Die Klavierstimme ist im Opus 102 bis zur Zwei- oder Einstimmigkeit ausgedünnt, und es fehlt jeder Anflug von Virtuosität, auch in der Cellostimme, so dass die beiden Sonaten nicht einmal die Hälfte der Notenbögen benötigen, die für die ausufernden frühen Werke gebraucht werden. Andererseits nimmt in ihnen der Dialog zwischen Streich- und Tasteninstrument an vielen Stellen schon die Poesie der Romantik vorweg. Das Cello gelangt hier – noch weit mehr als in der A-Dur-Sonate Opus 69 – zu sprechender Ausdruckskraft.

Es war ein junger Virtuose, der Beet-hoven zu diesen neuartigen Werken inspirierte: Joseph Linke. Als Cellist im Quartett von Ignaz Schuppanzigh sollte der geborene Wiener ab 1825 die späten Quartette Beethovens mit aus der Taufe heben, doch schon zehn Jahre früher wurde der Komponist auf ihn aufmerksam: In seiner Festkantate auf den Wiener Kongress, Der glorreiche Augenblick, schrieb Beethoven dem jungen Cellisten manches schöne Solo auf den Leib. Trotz seiner Taubheit war es dem Komponisten durchaus möglich, anhand des Bogenstrichs die Spielart seiner Streichersolisten zu beurteilen. Also fand er Gefallen an Linkes Spiel und komponierte für ihn im Sommer 1815 die beiden Cellosonaten Opus 102. Zusammen mit Beethovens Schüler Carl Czerny spielte Linke die Uraufführungen, die aber kein durchschlagender Erfolg wurden, wie die eingangs zitierte Äußerung von Frey beweist.

Wieder einmal war der Meister seiner Zeit voraus. In den schwierigen Jahren zwischen 1812 und 1817 vollzog sich in Beethovens Musik der mühevolle Übergang von der „mittleren“ zur „späten“ Stilphase. Er ging mit privaten Krisen einher: Im Juli 1812 unternahm der Meister im böhmischen Teplitz den letzten Versuch, eine Frau zu ehelicher Gemeinschaft zu überreden, wie seine geheimnisvollen Briefe „an die unsterbliche Geliebte“ beweisen. Chronische Krankheiten stellten sich ein, der juristische Streit um die Vormundschaft für seinen Neffen Karl belastete ihn zusätzlich. Am meisten aber machten ihm die finanziellen Probleme zu schaffen, die das „österreichische Finanzpatent“ von 1811 durch die allgemeine Geldentwertung ausgelöst hatte. Im Jahr darauf verlor Beethoven zwei seiner drei entscheidenden Wiener Mäzene: Fürst Kinsky starb, und auch Fürst Lobkowitz konnte seine Beiträge zur lebenslangen Rente für Beethoven nicht mehr leisten. So blieb nur Erzherzog Rudolph übrig, dessen großzügige Zuwendungen die Auslagen des Komponisten aber nicht deckten. Dies erklärt, warum in den Jahren 1813 bis 1817 so wenige bedeutende Werke entstanden: Beethoven musste sich Geldarbeiten zuwenden wie etwa den Bearbeitungen schottischer und irischer Lieder für Singstimme und Klaviertrio, die George Thomson aus Edinburgh bei ihm bestellte. Die beiden Cellosonaten des Opus 102 gehören den wenigen großen Werken jener Periode. Mit dem f-Moll-Streichquartett oder der „Hammerklaviersonate“ teilen sie die Gedrungenheit der Allegrosätze, die Verkürzung der Themen auf fast lakonische Wendungen und deren Entwicklung im polyphonen Satz.

Einem Berliner Musikkritiker von 1824 gefiel die erste Sonate aus Opus 102 „entschieden besser“ als ihr kontrapunktisches Gegenstück. Denn so frei sich die C-Dur-Sonate gebärdet, so geballt und konzentriert kommt die D-Dur-Sonate daher. Gleich der erste Satz, Allegro con brio, beginnt mit einer jener knappen Floskeln, wie sie für den Beethoven der Jahre ab 1811 typisch wurden. Es ist eine trotzige Sechzehntelfigur im Klavier, die an den Beginn des Streichquartetts
op. 95 erinnert. Im weiteren Verlauf wird dieses Motto mit den anderen Themen, einer spielerischen Überleitungsfigur und dem gesanglichen zweiten Thema, kombiniert. In der Coda steigern sich die Sechzehntelläufe des Hauptthemas zu einer kraftvollen Pointe – nicht unähnlich dem ersten Satz des B-Dur-Streichquartetts Opus 130.

Zum Brio des Kopfsatzes steht das Adagio con molto sentimento d´affetto im denkbar schärfsten Gegensatz. Es ist eines jener zur äußersten Langsamkeit gedehnten Adagios, deren neuartige „rührende Wendungen“ die romantisch gestimmten Zeitgenossen tief bewegten. Das Thema, ein feierlicher Choral in d-Moll, wird vom Cello angestimmt und vom Klavier in tiefer, dunkler Lage begleitet. Jede der vier Choralzeilen endet auf einer wundersamen Vorhaltswendung. Danach setzt ein pathetischer Dialog zwischen den beiden Instrumenten ein, getragen von einem sanft pulsierenden Motiv in der linken Hand des Klaviers. Im Mittelteil hellt sich die Stimmung auf, die beiden Instrumente dialogisieren in wundervoll fließender Bewegung. Danach kehren die beiden Mollabschnitte verändert wieder: Der d-Moll-Choral liegt nun im Klavier, unterbrochen von Einwürfen des Cellos im punktierten Rhythmus, und auch der pathetische Dialog wird im Ausdruck gesteigert. Den eigentlichen Höhepunkt des Satzes aber hat sich Beethoven für die über alle Maßen rührende Coda aufgehoben. Überraschend wechselt die Tonart nach B-Dur, und das Cello spielt einige der schönsten Vorhaltswendungen seiner Geschichte.

Dieser wunderbar innige Schluss wird vom Beginn des Finales förmlich weggewischt. Auf den Beethoven der tiefen Adagiogeheimnisse folgt unvermittelt der bärbeißige Humorist: Eine banale Tonleiter des Cellos wird vom Klavier ebenso banal wiederholt. Erst danach entpuppt sie sich als der Beginn eines Fugenthemas, das in einem kapriziösen Allegro fugato dreistimmig ausgearbeitet wird. Beethoven war keineswegs gewillt, seinen Hörern einen beschwingten Kehraus zu gönnen. Im kontrapunktischen Spiel dieses Fugenfinales legte er sich keinerlei Beschränkungen auf. Die Synkopen des Themas führen zu aberwitzigen rhythmischen Verschiebungen, die Läufe durchziehen den Satz kreuz und quer, vor allem querständig. In nuce kann man schon erahnen, wohin sich Beethovens Fugenkunst in den folgenden zehn Jahren entwickeln sollte, nämlich durch immer größere Freiheit bis hin zum Endpunkt der Großen Fuge für Streichquartett. Die deutlich kleinere Fuge, die seine letzte Cellosonate krönt, wirkt in Teilen ähnlich aberwitzig. Die große Steigerung am Ende wird von einem über 20 Takte ausgehaltenen Triller auf D in der linken Hand des Klaviers getragen.