Streichquartett, op. 8 | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Kurt Weill

Streichquartett, op. 8

Quartett Nr. 1 für zwei Violinen, Viola und Violoncello, op. 8

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 2093

Satzbezeichnungen

1. Introduktion. Sostenuto, con molta espressione – Agitato – Molto Tranquillo (attacca)

2. Scherzo. Vivace – Alla marcia (attacca)

3. Choralphantasie. Andante non troppo – Molto tranquillo

Erläuterungen

2004
KURT WEILL
Streichquartett, op. 8 (1923)

Traditionell begann der Weg, den der Dessauer Kurt Weill im Berlin der Zwanziger Jahre einschlug. Nachdem er einen ersten Anlauf zum Studium an der Musikhochschule wegen des allzu spätromantischen Stilideals abgebrochen hatte, kehrte er 1920 als Eleve von Feruccio Busoni an die Akademie der Künste in die Hauptstadt zurück. Nach dreijährigem Studium schlug er zunächst an der Seite des Expressionisten Georg Kaiser den Weg des Opernkomponisten ein, bevor er 1927 Bert Brecht kennenlernte und mit ihm in nur drei Jahren Musikgeschichte schrieb. Mit der 1928 uraufgeführten Dreigroschenoper sowie Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny schlugen die beiden ein neues Kapitel des deutschen Theaters auf.

Von dem unverwechselbaren Song-Stil, der die Brecht-Weill-Stücke sp populär machte, ist man in Weills Streichquartett Opus 8 weit entfernt. Als eifrigen Studenten von Busoni und Jarnach drängte es den 23jährigen in diesem Stück nach Ausdruck und Experiment, nicht nach der griffigen Einfachheit des Songs. Seltsamerweise steht sein vier Jahre älteres erstes Streichquartett in h-Moll dem uns vertrauten Weill näher als das spätere Quartett von 1923.
Letzteres ist ein expressionistisches Experiment, das David Drew eine “seltsame Fehlkalkulation” nannte. In großer Dreiteiligkeit gehen die Sätze ineinander über: eine Introduktion, ein Scherzo und eine Choralphantasie. Seufzermotive der ersten Geige eröffnen im lastenden Dreihalbetakt das Stück; ein gespenstischer Trommelrhythmus der Unterstimmen tritt hinzu, was der langsamen Einleitung eine fahle Note verleiht. Ein Agitato-Ausbruch in rasenden Sechzehnteln fegt die Ruhe hinweg, doch nach einem schrillen Fortissimotriller auf dem vier gestrichenen C kehrt das Seufzermotiv des Anfangs wieder.

Attacca folgt das Scherzo, das den Charakter einer grotesken Spielmusik trägt. Der Bratsche fällt das Thema zu, das jedoch alsbald von Auftakt-Akzenten der Geigen verdrängt wird. Zwei gegensätzliche Trios unterbrechen die wilde Szene: ein Alla marcia, ein Marsch, in dem die Bratsche mit Trompetenfanfaren (quasi tromba) ins gespentische Pianissimo der übrigen Stimmen hineintönt, und eine kurze Walzerepisode, die dolce espressivo und ruhig zu spielen ist. Umso rasanter ist die Stretta, mit der der Satz nach der Wiederkehr des Hauptteils schließt. Die Bewegung läuft sich förmlich tot: eine sinnlos wiederholte Dreitonfolge fällt ins Leere einer Generalpause.

Die abschließende Choralphantasie beginnt ganz nach barockem Muster: Über dem gehenden Bass des Cellos entspinnt sich ein kontrapunktisches Gewebe, zu dem als Cantus firmus in langen Notenwerten die Choralmelodie in der zweiten Geige hinzutritt. Weill hat keinen gängigen Choral benutzt, sondern einen im Sinne lutherischer Tradition selbst geschrieben, zwischen Kirchenton und Chromatik seltsam changierend. In aller Klarheit tritt er am Ende auf, als vierstimmiger Kantionalsatz Molto tranquillo. Zuvor durchlebt er eine erstaunliche Metamorphose bis hin zu gebrochenen Staccatosextolen, einem Rezitativ der Bratsche als “Solo-Cadenz” und einer Sul ponticello-Stelle mit anschließendem Cellosolo. Die hoch expressive Aura des Satzes verrät, dass wie uns hier wie in Hindemiths Junger Magd im Dunstkreis des Expressionismus befinden.