„Le quattro stagioni„ („Die vier Jahreszeiten“) Violinkonzerte, op. 8,1-4
Werkverzeichnisnummer: 2022
Concerto E-Dur, „La primavera“
1. Allegro
2. Largo
3. Allegro
Concerto g-Moll, „L’estade“
1. Allegro non molto
2. Adagio
3. Presto
Concerto F-Dur, „L’autunno“
1. Allegro
2. Adagio
3. Allegro
Concerto f-Moll, „L’inverno“
1. Allegro non molto
2. Largo
3. Allegro
Don Antonio Vivaldi, Venezianer, Geiger und Priester, doch vom Messelesen zeitlebens wegen chronischer Bronchitis befreit, war im Spätbarock Venedigs berühmtester Komponist. Um 1720 schuf er mit seinen „Vier Jahreszeiten“ den erfolgreichsten Konzert-Zyklus seiner Zeit, Stücke, die bald in ganz Europa Verbreitung fanden und schon damals zu Lieblingsstücken vieler Hörer avancierten – vom französischen König Ludwig XV. bis hin zum Philosophen Jean-Jacques Rousseau. „Wem sind nicht auch die vier Jahreszeiten eines Vivaldi bekannt?“ stöhnte schon 1737 der deutsche Musikkritiker Johann Adolf Scheibe. Und schon lange bevor moderne Interpreten die Stücke für jedes erdenkliche Instrument bearbeiteten, häuften sich die Arrangements dieser so sehr beliebten Concerti. Ein schlesischer Organist benutzte sie im Gambenunterricht (!), Rousseau schrieb sie für Flöte solo um, der rührige Pariser Komponist Michel Corrette erweiterte sie gar zu Psalmvertonungen für Chor und Orchester.
Lange Zeit blieb Vivaldis Name nur durch diese vier Violinkonzerte lebendig, während man den Großteil seines Schaffens für belanglos oder verloren hielt. Erst in den 1920-er Jahren nämlich kamen Hunderte von verloren geglaubten Originalhandschriften des Komponisten durch einen ZUfallsfund wieder ans Licht – fast seine gesamte Kirchenmusik, die erhaltenen Opern, Concerti und Sonaten in Hülle und Fülle. Seitdem stehen die Räder der Vivaldi-Renaissance nicht still und fördern immer neue Schätze zutage, doch noch kein Werk hat die Popularität der „Vier Jahreszeiten“ erreichen können.
Unter dem italienischen Originaltitel „Le Quattro Stagioni“ bilden sie die ersten vier Nummern von Vivaldis Opus 8, das 1725 in Amsterdam im Druck erschien. Der Komponist gab dieser Sammlung von zehn Violin- und zwei Oboenkonzerten den Titel „Der Wettstreit zwischen Harmonie und Erfindung“ („Il cimento dell’armonia e dell’invenzione“). Er spielte damit auf zwei Eigenschaften an, ohne die kein Komponist auskommt: melodische Erfindungsgabe (ital. Invenzione) und Kenntnis der Satztechnik (ital. Armonia im Sinne von Kontrapunkt und Harmonielehre). Beide, so suggeriert der Titel, streiten in diesen Konzerten um den Vorrang.
Die Jahreszeiten-Konzerte stehen eindeutig auf der Seite der „Invenzione“: Erfindungsreicher hat kein Komponist die typische Szenerie jeder Jahreszeit in Tönen eingefangen: von der Klangkulisse der Natur, den Vogelstimmen und dem Donnergrollen, über die jahreszeitlichen Vergnügungen (Weinfeste, Eislaufen etc.) bis hin zu den extremen Temperaturen des Sommers und Winters, deren Wirkung auf den Menschen Vivaldi in drastischen Tönen schilderte (das Ermatten im Sommer, das Zittern und Zähneklappern in der Winterkälte). Nicht nur den Italienern, sondern auch den Franzosen gefiel diese „Nachahmung der Natur“ in all ihren Erscheinungen, während die kritischen Deutschen wieder einmal die Nase rümpften und fragten, ob denn diese Tonmalereien auch ohne die hinzugefügten Gedichte und Texte verständlich wären.
Am Erfolg der Stücke konnten diese Nörgler nichts ändern. Das Geheimnis ihres bis heute anhaltenden Erfolgs liegt in einer wundervollen, so nie mehr erreichten Balance begründet: einer Balance zwischen prickelndem Einfall im Detail und harmonisch abgerundeter Schönheit im Ganzen, zwischen der Solo-Violine als dem Helden der Geschichte und dem Streichorchester, das gewissermaßen den Rahmen und den Hintergrund jedes „Tongemäldes“ entwirft.
In der Tat hat man es mit zwölf Tongemälden zu tun, die gleichmäßig, also in vier Dreiergruppen auf die vier Jahreszeiten verteilt sind. Vivaldi hat hier die von ihm selbst erfundene dreisätzige Konzertform auf geniale Weise für seine tonmalerischen Absichten genutzt. Zwei schnelle Sätze rahmen in seinen Violinkonzerten stets einen langsamen Satz. Die Ecksätze der Quattro Stagioni zeichnen große, von Aktivität bestimmte Bilder jeder Jahreszeit. Im Kopfsatz des ersten Konzerts sind es die Vögel als Vorboten des Frühlings und die sprudelnden Quellen, im Herbst-Konzert singende Bauern und ein Betrunkener auf einem Weinfest – eine Szenerie, die man hierzulande kaum erklären muss. Als kaum aktuell und schmerzlich vermisst mag man augenblicklich den Kopfsatz des Sommers empfinden: „Mattigkeit infolge der Hitze“ wollte Vivaldi hier schildern, also den vergeblichen Versuch von Mensch und Tier, sich unter der drückenden Schwüle zu Aktivität aufzuraffen. Erst ein gewaltiges Gewitter fegt im Finale die Hitze mit brutaler Gewalt hinweg – letztere Szenerie wäre uns in diesem Sommer eher vertraut.
Zwischen diese großformatigen Darstellungen jahreszeitlicher Aktivitäten hat Vivaldi als Mittelsätze intime Miniaturen von Schlafenden eingeschoben. Man könnte von Studien des Schlafs unter den unterschiedlichen Bedingungen der Jahreszeiten sprechen. Ruhig ruht es sich im Frühling unter sanft säuselnden Blättern, im Sommer dagegen lassen uns die drückende Hitze, die Stechmücken und das ferne Grollen des Gewitters kaum Schlaf finden. Der Schlaf der Betrunkenen im Herbst ist schwer und dumpf. Erst im Winter fühlt man sich in der warmen Stube wieder pudelwohl, wenn draußen der Regen sanft an die Scheiben plätschert.
Jedes dieser Details hat Vivaldi minutiös in den Noten vermerkt; wir kommen darauf zurück. Das eigentliche Geheimnis der Vier Jahreszeiten liegt jedoch darin, dass man über die Fülle dieser Einzelereignisse auch getrost hinweghören kann und dennoch den Zauber jeder Jahreszeit spüren wird. Unwillkürlich lässt man sich vom Charme der melodischen Einfälle, von der Virtuosität der Sologeige und vom Wohlklang des Streichorchesters in die jeweilige Jahreszeit entführen, auch wenn man nicht um all die feinen Kleinigkeiten weiß, die der Meister über sein Gemälde ausgestreut hat.
Auch in diesem Bereich, der für musikalische Stimmungen so wichtigen Klang-„Farbe“, war Vivaldi ein genialer Maler in Tönen. Mit echt venezianischen Farbverständnis wählte er für jede Jahreszeit die rechte Grundfarbe, sprich: Tonart. Das helle, lichte E-Dur entspricht dem Frühling, der Jahreszeit des ersten lichten Grüns, und bringt die Violinen besonders strahlend und virtuos zur Geltung. G-Moll ist für den Sommer mit seiner drückenden Hitze und den schweren Gewittern auch deshalb eine ideale Tonart, weil man hier die tiefste Geigensaite, die leere G-Saite, für die Nachahmung des Donners weidlich ausnutzen kann. Für den Herbst mit seinen Weinfesten und seinen Jagden wählte Vivaldi F-Dur, die Tonart der Jagdhörner und der dörflichen Tanzmusik. Der Winter schließlich kommt im frostigen Gewand von f-Moll daher, einer Tonart, die die Dissonanzen gewissermaßen von selbst anzieht.
Wie gesagt: es bleibt dem Hörer überlassen, ob er sich – bildlich gesprochen – in größerer Entfernung von Vivaldis Jahreszeiten-Gemälden aufstellt und nur jene Grundstimmung auf sich wirken lässt oder ob er nahe herantritt, um auch die vielen kleinen Details wahrzunehmen. Letzteres hat Vivaldi dadurch erleichtert, dass er in der gedruckten Ausgabe von 1725 jedem Konzert ein Programm voranstellte, das er in die Form eines Sonetts kleidete. Diese „erklärenden Sonette“ (sonetti dimostrativi) sind leider zu lang, um sie hier zu zitieren. Die verschiedenen Gedichtzeilen hat Vivaldi in den Stimmen der Notenausgabe exakt an den Stellen hinzudrucken lassen, auf die sie sich beziehen. So weiß jeder Spieler genau, was er an dieser oder jener Stelle tonmalerisch zu verkörpern hat, ob einen bellenden Hund, das Geplätscher einer Quelle oder das Knallen einer Flinte. Das Tutti aller Instrumente liefert mit seinem immer wiederkehrenden Thema gleichsam das Motto jedes Satzes.
Im ersten Satz des Frühlings heißt das Motto Giunt´è la Primavera, „Der Frühling ist gekommen“. Es wird in jenem berühmten, strahlenden E-Dur-Thema ausgedrückt, das allein ausreichte, um Vivaldi unsterblich zu machen. Das wusste der Komponist sehr gut und hat das Thema geflissentlich wieder verwendet: für einen Chorsatz in der Oper „Olimpiade“, für eine Sinfonie in der Oper „La fida Ninfa“. Nach dem Eingangsthema schildern gleich mehrere Soloviolinen das Zwitschern der Vögel, die den Frühling begrüßen. Später hört man im Streichorchester das Plätschern der Quellen, schließlich ein kurzes Gewitter, das die Idylle aufschreckt. Doch der Schatten ist rasch verflogen, und die Vögel kehren zum Gesang zurück.
Im langsamen Satz hat Vivaldi den sanften Schlaf eines Hirten an einem „locus amoenus“ durch eine raffinierte Klangschichtung geschildert: das „angenehme Säuseln der Bäche und Sträucher“ ahmen die Violinen des Streichorchesters in säuselnden Terzen nach, während die Ruhe des Hirten in den ruhigen Bögen der Solovioline eingefangen ist. An seiner Seite wacht der treue Hund über die Herde. Sein Bellen fällt der Bratsche zu, die ihr Zweitonmotiv „molto forte e strappato“, also so laut wie möglich und abgerissen spielen muss, eben wie ein echtes Hundebellen. Das Finale des Konzerts zeigt ein pastorales Idyll: Schäfer und Nymphen feiern den Frühling mit einem Tanz zum Klang des Dudelsacks, dessen typische Klänge Vivaldi hier in den Streicher und besonders im Bass nachgeahmt hat.
Zu Beginn des Sommers herrscht drückende Hitze, die jede Tätigkeit lähmt. Kuckuck, Taube und Distelfink erheben nacheinander (in der Solovioline) ihre Stimme, um die allgemeine Müdigkeit zu vertreiben – vergeblich. Erst die Winde, der sanfte Westwind Zephirus und der raue Nordwind Boreas, bringen Bewegung ins Spiel. Schon fürchtet der Hirte um seine Herde, was der Solovioline die Gelegenheit zu einem kurzen, herzzerreißenden Lamento gibt. Wenn der Nordwind am Ende über die Ebene hinwegfegt, ahnt man schon, was im Finale auf den Hirten und seine Herde zukommen wird: ein unbändiges Gewitter. Zuvor jedoch hat Vivaldi jenen unruhigen Schlaf geschildert, der für heiße Sommernächte und -nachmittage typisch ist: Fliegen und Mücken (die Tuttiviolinen) belästigen den ruhenden Hirten, während sich von ferne schon das Gewitter ankündigt. Wir hören es an den Tremolo-Einschüben, die gegen Ende immer lauter werden. Im Finale ist kein Halten mehr: das Gewitter bricht unerbittlich los. Regenschauer treiben die Menschen vor sich her, der Hagel mäht das volle Getreide und alle flüchten vor der schieren Wucht der Gezeiten.
Ein Weinfest und die Jagd bilden das Ambiente des Herbstes. Der erste Satz zeigt die Bauern beim Erntedank: sie tanzen, und zwar einen typischen Bauerntanz im holprigen Rhythmus. Dass die Bauern auch singen, zeigt die Solovioline bei ihrem Einsatz: Sie imitiert in Doppelgriffen den Bauerngesang Norditaliens. Plötzlich taucht ein Betrunkener auf und stört herumstolpernd das Fest. Grob polternd und seiner Sinne nicht mehr mächtig gebärdet er sich in den virtuosen Dreiklangsbrechungen und Läufen der Violine. Nach und nach mehrt sich der Zuspruch zum Wein derart, dass alle mitten im Allegro in Schlaf sinken: doch danach erheben sie sich gestärkt wieder und führen den ersten Satz tanzend u Ende. Im Mittelsatz haben die Betrunkenen reichlich Zeit, ihren Rausch auszuschlafen, denn es handelt sich um ein sehr langsames Adagio, das fast schon dem Stillstand nahe ist. Nur das Cemvbalo bewegt sich in seinen gebrochenen Akkorden frei durch den Raum, während die Streicher ganz im Schlaf gefangen sind. Die düsteren Harmonien lassen für ihre Träume nichts Gutes erahnen. Sie werden im Finale von Jagdhörnern verscheucht, deren Klang Vivaldi geschickt in den Violinen nachgeahmt hat. Die Jagdgesellschaft erspäht einen Hirsch (Solovioline), den sie gnadenlos zu Tode hetzt. Man kann im Streichorchester die Meute der Hunde hören und das Knallen der Jagdflinten. Der Hirsch verendet mit einem kläglichen Lauf, und die imaginären Hörner lassen ihr triumphierendes „Halali“ erschallen.
Der Winter gibt Anlass zum düstersten Konzert der Reihe. Die Menschen frieren vor Kälte im rauhen Wind (Anfang und erstes Solo). Sie versuchen, sich durch Stampfen und Umherlaufen zu wärmen, doch ihr Zähneklappern (Tremolo) ist nicht zu überhören. Im Adagio lockt der warme Ofen. Von ihm aus schaut man genügsam auf den Regen hinaus, der gegen die Scheiben plätschert (Pizzicato). Im Finale vergnügen sich Menschen auf dem zugefrorenen See beim Eislaufen. Erst tasten sie sich zaghaft vor, dann werden sie wagemutiger; einer dreht immer virtuosere Pirouetten (Solo), bis er im Eis einbricht (Generalpause). Am Ende haben die Winde das letzte Wort: „Scirocco, Boreas und alle Winde im Streit. – So ist der Winter, doch so, dass er auch Freuden bringt“, wie es im Sonett heißt.