„Trio d’anches“ für Oboe, Klarinette und Fagott
Werkverzeichnisnummer: 2017
1. Animé
2. Longuisamento
3. Vif
1887 in Rio de Janeiro geboren, gilt Villa-Lobos als Begründer der brasilianischen Musik. Sein Vater, ein Bibliothekar, brachte ihm auf einer Viola das Cellospielen bei, die Gitarre lernte er während zahlloser gemeinsamer Stunden mit den Straßenmusikanten von Rio, deren Gesellschaft er seiner Bestimmung zum Mediziner vorzog. Zwischen 18 und 25 verschlug ihn sein unstetes Wanderleben in die entlegensten Teile Brasiliens, wo er Volksmelodien sammelte, aber auch – nach eigenen Angaben – Kannibalen in die Hände fiel, die ihn nur wegen der Schönheit seiner Musik verschonten. Nach einem vergeblichen Versuch, in Rio Musik-theorie zu studieren, betrieb er autodidaktische Studien der großen Meister und verdiente sich sein Geld als Cellist in Cafés und Kinos.
Seit dem ersten Konzert mit eigenen Werken 1915 bis zum ehrenvollen Auftritt beim Besuch des belgischen Königs 1922 (Sinfonie über den I. Weltkrieg) stieg er zu einem der gefeiertsten und umstrittensten Künstler Brasiliens auf. Die Jahre 1923 bis 1930 verbrachte er in Paris. Dort waren seine Werke die Sensation in Avantgarde-Kreisen, für die er aber auch Diners „à la brésilienne“ arrangierte. Nachdem er 1930 in die Heimat zurückgekehrt war, wurde er zum Aushängeschild des nationalistischen Regimes in Brasilien. Aus dem Enfant terrible wurde ein Staatskünstler mit administrativen und vor allem pädagogischen Aufgaben. Er gründete 1942 das Konservatorium und 1945 die Musikakademie in Rio. Nach dem II. Weltkrieg führten ihn Reisen nach Paris und New York, wo man seinen 70. Geburtstag ebenso aufwendig feierte wie in Rio oder Sao Paolo.
Je nach Art der Zählung hat er 800 bis 2000 Werke geschrieben, darunter 4 Opern, 6 Ballette, 11 Symphonien, 17 Streichquartette usw. Besonders zwei große Werkzyklen sind für ihn charakteristisch: die Bachianas Brasileiras Nr. 1-7, in denen er Strukturen bachscher Musik mit brasilianischer Folklore verband, und die Choros Nr. 1-14, in denen er die Musik der Straßenmusikanten von Rio nachahmte, mit denen er seine Jugend verbrachte.
Etwas vom spontanen Geist dieser Choros steckt auch in dem Bläsertrio, das Villa-Lobos 1921, noch in Brasilien komponierte. Seine drei Sätze entziehen sich herkömmlichen Formbegriffen. Im ersten Satz wiederholen Klarinette und Fagott ständig ein dissonantes Motiv mit kurzem Auftakt, über dem die Oboe mit einer Art Vogel- oder Naturlaut einsetzt. Im weiteren Verlauf tauschen die Instrumente die Rollen: Oboe und Fagott übernehmen das penetrante Hauptmotiv, während die Klarinette Solo spielt; alle drei Instrumente verstricken sich in ein Dickicht dissonierender Intervalle und verschlungener Rhythmen. Man könnte, wie es ein amerikanischer Kritiker tat, an die Exkursionen des jungen Komponisten im brasilianischen Dschungel denken.
Der zweite Satz beginnt wie der erste: mit einem kurzen, ständig wiederholten Motiv der Unterstimmen und einem freien Oboensolo. Der Tonfall ist hier „languissant“, also klagend. Langsame Soli aller drei Instrumente bestimmen den Satz, unterbrochen von nervösen Episoden, hinter denen wohl eine tonmalerische Absicht steckt. Das Finale zeichnet sich durch Motorik aus: Mal regelmäßig hämmernd, mal synkopisch verschoben, durchzieht ein dissonanter Klanggrund von je zwei Instrumenten den ganzen Satz. Darüber bringt der dritte Spieler virtuose Läufe und Akkordbrechungen. Im Laufe des Satzes steigert sich das Spiel mit Rhythmen und Arabesken zu erheblicher Virtuosität, wobei die rhythmischen Begleitmotive gelegentlich schon die Minimal music des späten 20. Jahrhunderts vorwegnehmen.
Trotz seiner sperrigen Klänge und komplexen Rhythmen bestätigt das Bläsertrio, was Corrêa de Azevedo über Villa-Lobos schrieb: „Die große Stärke seiner Musik ist ihre Spontaneität… Diese Frische kann den gelehrtesten Hörer wie den naivsten überzeugen, sie bringt ihre Wirkung durch Farbe, rhythmische Energie und die pure Schönheit ihrer Melodien hervor, aber vor allem durch ihre magischen Klangfarben, die selbst in Chor- und Kammermusik den Eindruck orchestraler Brillianz erwecken.“