„Octandre“ (1924)
Werkverzeichnisnummer: 1988
1. Assez lent
2. Très vif et nerveux
3. Grave – Animé et jubilatoire
Kompromisslos hart und geballt agieren die Bläser im Octandre des französisch-amerikanischen Komponisten Edgard Varèse. Er zählte den interessantesten Figuren der experimentellen Moderne. In Paris geboren, studierte er zunächst in seiner Heimatstadt bei Roussel, d´Indy und Widor, dann in Berlin, wo ihn Busoni auf den Geschmack der Moderne brachte. Fortan waren Schönberg und Strauss seine Idole, denen er auch in seiner zweiten Heimat Amerika zum Durchbruch zu verhelfen versuchte. 1917 kam er zum ersten Mal nach New York und lebte dort bis auf ein kurzes französisches Intermezzo 1929-33 dauerhaft. Seit 1927 war er amerikanischer Staatsbürger. In seinem berühmtesten Orchesterstück, Amérique von 1926, hat er seiner Wahlheimat ein Denkmal gesetzt.
Der Drang zum Experiment zieht sich durch das gesamte Schaffen von Varèse: Von seiner verlorenen frühen Oper Oedipus und die Sphinx auf einen Text von Hugo von Hofmannsthal bis in die Werke der 50er Jahre. In New York führte er einen Kreuzzug für die Avantgarde, dirigierte Webern, sympathisierte mit den Dadaisten, gründete mit seinem mexikanischen Kollegen Carlos Chávez eine Komponistengilde und komponierte progressive Werke. Vor allem experimentierte er mit elektronischer Musik, deren Bedeutung für das Kino er schon damals ahnte, ohne dass Hollywood diese Visionen ernst genommen hätte. In den 1950er Jahren trat er mit zwei der frühesten elektronischen Kompositionen hervor, von denen eine für Le Corbusiers Pavillon auf der Brüsseler Weltausstellung 1958 bestimmt war.
Octandre für Bläser kam 1924 im Vanderbilt Theatre in New York zur Uraufführung – in einem typischen Varèse-Programm, das daneben Werke von Berg, Webern und Ruggles umfasste. Sein Titel entspricht nicht etwa dem musikalischen Begriff Oktett, sondern ist aus der Botanik entlehnt – vom lateinischen Octandrus. Dieses Wort bezeichnet eine Blume, deren Blüte acht Staubblätter aufweist. Den Kritiker des New York Herald verleitete dies nach der Uraufführung zu folgender Stilblüte: „Ein Octandrus ist eine Blume mit acht Staubblättern. Mr. Varèses Octandre war keine Blume, es war ein Pfirsich.“ Aus der Rückschau überrascht eher die visionäre Fortschrittlichkeit des siebenminütigen Stückes, in dem die Bläser teils frei schwingende, atonale Melodien, teils dissonante, scharf rhythmisierte Blöcke spielen.
Der erste Satz beginnt mit einem langen Solo der Oboe, das von ferne an Strawinskys Sacre du printemps gemahnt. Es wird allmählich von zunächst diffusen, dann blockhaften Fortissimo-Klängen der anderen Instrumente überlagert, um am Ende wieder aufzutauchen. Der zweite Satz, eröffnet vom Piccolo, spielt mit dem Gegensatz zwischen langen, ausgehaltenen Tönen und verschieden schnellen Tonrepetitionen. Der dritte Satz greift das Material der ersten beiden wieder auf, verarbeitet es in einer kurzen Fugenexposition und gipfelt in einem „jubelnden“ Schluss (Animé et jubilatoire). Dessen Klang – Trompetensolo zu fast gewalttätiger, homorhythmischer Begleitung – ist typisch für Varèse und verweist auf eine zweite außermusikalische Anregung. Varèse ließ sich von den akustischen Studien des Physikers Helmholtz zu den massiven Akkorden des Octandre anregen.
2002
EDGARD VARÈSE
Octandre (1923)
So vielfältig aufgespalten die Bläser bei Hindemith zu Werke gehen, so kompromisslos hart und geballt agieren sie im Octandre des französisch-amerikanischen Komponisten Edgard Varèse. Er zählt zu den interessantesten Figuren der experimentellen Moderne. In Paris geboren, studierte er zunächst in seiner Heimatstadt bei Roussel, d´Indy und Widor, dann in Berlin, wo ihn Busoni auf den Geschmack der Moderne brachte. Fortan waren Schönberg und Strauss seine Idole, denen er auch in seiner zweiten Heimat Amerika zum Durchbruch zu verhelfen versuchte.
1917 kam Varèse zum ersten Mal nach New York und lebte dort bis auf ein kurzes französisches Intermezzo 1929-33 dauerhaft. Seit 1927 war er amerikanischer Staatsbürger. In seinem berühmtesten Orchesterstück, Amérique von 1926, hat er seiner Wahlheimat ein Denkmal gesetzt.
Der Drang zum Experiment zieht sich durch das gesamte Schaffen von Varèse: Von seiner verlorenen frühen Oper Oedipus und die Sphinx auf einen Text von Hugo von Hofmannsthal bis in die Werke der 50er Jahre. In New York führte er einen Kreuzzug für die Avantgarde, dirigierte Webern, sympathisierte mit den Dadaisten, gründete mit seinem mexikanischen Kollegen Carlos Chávez eine Komponistengilde und komponierte progressive Werke. Vor allem experimentierte er mit elektronischer Musik, deren Bedeutung für das Kino er schon damals ahnte, ohne dass Hollywood diese Visionen ernst genommen hätte. In den 1950er Jahren trat er mit zwei der frühesten elektronischen Kompositionen hervor, von denen eine für Le Corbusiers Pavillon auf der Brüsseler Weltausstellung 1958 bestimmt war.
Octandre für Bläser kam 1924 im Vanderbilt Theatre in New York zur Uraufführung – in einem typischen Varèse-Programm, das daneben Werke von Berg, Webern und Ruggles umfasste. Sein Titel entspricht nicht etwa dem musikalischen Begriff Oktett, sondern ist aus der Botanik entlehnt, vom lateinischen Octandrus. Dieser Ausdruck bezeichnet eine Blume, deren Blüte acht Staubblätter aufweist. Den Kritiker des New York Herald verleitete dies nach der Uraufführung zu folgender Stilblüte: „Ein Octandrus ist eine Blume mit acht Staubblättern. Mr. Varèses Octandre war keine Blume, es war ein Pfirsich.“ Aus der Rückschau überrascht eher die visionäre Fortschrittlichkeit des siebenminütigen Stückes, in dem die Bläser teils frei schwingende, atonale Melodien, teils dissonante, scharf rhythmisierte Blöcke spielen.
Der erste Satz beginnt mit einem langen Solo der Oboe, das von ferne an Strawinskys Sacre du printemps gemahnt. Es wird allmählich von zunächst diffusen, dann blockhaften Fortissimo-Klängen der anderen Instrumente überlagert, um am Ende wieder aufzutauchen. Der zweite Satz, eröffnet vom Piccolo, spielt mit dem Gegensatz zwischen langen, ausgehaltenen Tönen und verschieden schnellen Tonrepetitionen. Der dritte Satz greift das Material der ersten beiden wieder auf, verarbeitet es in einer kurzen Fugenexposition und gipfelt in einem „jubelnden“ Schluss (Animé et jubilatoire). Dessen Klang – Trompetensolo zu fast gewalttätiger, homorhythmischer Begleitung – ist typisch für Varèse und verweist auf eine zweite außermusikalische Anregung. Akustische Studien des Physikers Helmholtz inspirierten Varèse zu den Klangballungen und -kopplungen des Octandre.