Valse-Scherzo, op. 34
Werkverzeichnisnummer: 1975
Scherzo
Zu Tschaikowskys Freundeskreis zählten zahlreiche berühmte Geiger wie etwa der Leipziger Professor Adolf Brodsky (1851-1929), der sein Violinkonzert aus der Taufe hob, oder Leopold Auer, der Begründer der russischen Geigenschule. Letzterer charakterisierte den Komponisten folgendermaßen: „Tschaikowsky hatte die Persönlichkeit und die Umgangsformen eines französischen Marquis aus dem 18. Jahrhundert, war dabei jedoch äußerst zurückhaltend, mit einer Zurückhaltung, die aber nicht als Pose fehlgedeutet werden kann. Er war zu klug, als dass er jemals eine Rolle unter seinen Künstlerkollegen zu spielen suchte.“
Seine berühmte Schüchternheit legte Tschaikowsky nur ab, wenn er mit seinen Schülern vom Konservatorium zusammen war, worunter sich auch etliche Geiger befanden. Für keinen anderen konnte er sich so begeistern wie für Josef Kotek (1855-1885). Im Frühjahr 1877 verliebte sich Tschaikowsky leidenschaftlich in den jungen Mann, wovon sein Valse-Scherzo für Violine und Klavier beredtes Zeugnis ablegt. Er hat es Kotek gewidmet. Die Geschichte dazu hat er in einem Brief an seinen Bruder Modest erzählt: „Ich bin so verliebt, wie ich es lange nicht war … ich kenne Kotek schon seit sechs Jahren. Ich habe ihn immer gemocht und war einige Male dabei, mich zu verlieben. Jetzt habe ich den Sprung gemacht und mich unwiderruflich ergeben. Wenn ich stundenlang seine Hand halte und mich quäle, ihm nicht zu Füßen zu fallen, ergreift mich die Leidenschaft mit übermächtiger Wucht, meine Stimme zittert wie die eines Jünglings, und ich rede nur noch Unsinn.“
Bald kamen Gerüchte über die Schwärmerei des Komponisten für den jungen Mann auf, was Tschaikowsky zu einem merkwürdigen Schritt verleitete: Er heiratete urplötzlich die junge Antonina Miljukowa, die vorgab, ihn vom Konservatorium zu kennen – nach nur zwei Monaten näherer Vertrautheit. Die Ehe sollte ein Hafen der Ruhe werden und ein Ablenkungsmanöver, stattdessen endete sie in einer Katastrophe. Resigniert fasste der Komponist die Stimmung zusammen, die sich nach der Hochzeit im Juli 1877 unweigerlich seiner bemächtigte: „Kaum war die Trauung vollzogen, kaum war ich mit meiner Frau allein geblieben und kaum hatte ich erkannt, dass uns das Schicksal untrennbar verbunden hatte, da begriff ich plötzlich, dass ich nicht einmal Freundschaft, sondern im wahrsten Sinne des Wortes Widerwillen gegen sie empfand. Der Tod schien mir der einzige Ausweg, doch Selbstmord kam nicht in Frage.“ Der angebliche Selbstmordversuch in den Fluten der Moskwa hat offenbar nie stattgefunden, wohl aber kam es zu einem Nervenzusammenbruch, den der Komponist auf einer weiten Reise in den Westen und Süden kurierte. Am Ende dieser Auferstehung unter dem blauen Himmel Italiens und der Schweiz stand das Violinkonzert, komponiert im März 1878 in Clarens am Genfer See.
Ein Jahr zuvor schrieb er – quasi als Vorstudie zum Konzert und noch unter dem Eindruck seiner frischen Liebe für Kotek – Valse-Scherzo Opus 34. Wie aus den erhaltenen Briefen Koteks an Tschaikowsky hervorgeht, ist die Fassung für Klavier und Violine die authentische. Die spätere Version mit Orchesterbegleitung geht im Wesentlichen auf Kotek zurück. Er hat das Werk für seinen Meister orchestriert, war aber vom Ergebnis nicht überzeugt: „Ich denke, ich hätte den Walzer nicht orchestrieren sollen – es klingt irgendwie leer, außer am Schluss natürlich. Mit Klavier ist es besser.“ (Brief vom März 1879).
Die Wirren der Entstehungsgeschichte hat der russische Forscher Alexander Komarov 2016 aufgeklärt. Demnach bedankte sich Kotek bereits im Januar 1877 für das noch nicht vollendete Werk und stachelte seinen Meister an: „Ich danke Ihnen im vorhinein herzlich für den Walzer, er wird wunderschön sein, wie alles, was Sie komponieren, und wenn Sie sich noch ein wenig anstrengen, wird es ein Werk werden, das alle Welt bewundert.“ Im März hätte Kotek den vollendeten Walzer bereits in Händen halten können, hätte Tschaikowsky ihn nicht zum Berliner Verleger Luckhardt geschickt, in der Hoffnung auf eine baldige Veröffentlichung. Als Monate lang nichts geschah, verlangte der erboste Komponist sein Autograph zurück und übergab es im Mai 1878 seinem russischen Verleger Jurgenson. Statt aber gleich Kotek mit der Revision der Geigenstimme zu beauftragen, übertrug er diese Arbeit einem weiteren Schüler, dem Geiger Andrej Arends. Als Kotek „sein“ Stück endlich zu sehen bekam, schlug er die Hände über dem Kopf zusammen angesichts der vielen Fehler und der falschen Strichbezeichnungen für den Solisten. Gerade noch rechtzeitig konnten Meister und Schüler diese Fehler beim Verleger anmelden, so dass die Ausgabe im Oktober 1878 endlich fehlerlos erschien, versehen mit einer Widmung an Josef Kotek.
Bereits im September hatte Nikolaj Rubinstein die Uraufführung des Violinwalzers mit der Kotekschen Orchesterbegleitung dirigiert, und zwar auf der Pariser Weltausstellung im Trocadéro, dem gewaltigen Ausstellungspalast gegenüber dem (damals noch nicht gebauten) Eiffelturm. Es war aber nicht Josef Kotek, der damals die Solostimme spielte, sondern der junge polnische Geigenvirtuose Stanislaw Barcewicz, gerade erst 20 Jahre alt. Die Uraufführung war kein Erfolg, wie auch später die Moskauer Erstaufführung mit Barcewicz am Solopult. Ob es an ihm lag oder an der Instrumentierung, wie Kotek vermutete, oder schlicht an der Überlänge dieses Walzers mit seinen 569 Takten, steht dahin. Populär wurde das Werk erst, nachdem es von dem Geiger Wassili Besekirski 1914 um mehr als 200 Takte gekürzt und mit zusätzlichen brillanten Effekten ausgestattet worden war. In dieser Version wird Valse-Scherzo bis heute meistens gespielt, während Alexander Komarov 2016 im Auftrag des Henle-Verlags die Urfassung wieder herstellte. Sie wird heute auch von Fedor Rudin und Florian Noack gespielt. Tschaikowsky selbst liebte dieses Stück übrigens sehr.