Die Jahreszeiten | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Pjotr I. Tschaikowsky

Die Jahreszeiten

Die Jahreszeiten, op. 37b, 12 Klavierstücke über die Monate des Jahres

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 1960

Satzbezeichnungen

Januar (Am Kamin)
Februar (Karneval)
März (Lied der Lerche)

April (Schneeglöckchen)
Mai (Weiße Nächte)
Juni (Barcarole)

Juli (Lied der Schnitter)
August (Die Ernte)
September (Jagdlied)

Oktober (Herbstlied)
November (Troika)
Dezember (Weihnachten)

Erläuterungen

„Wenn ich heute vom Antlitz der Erde verschwinden würde, wäre das für die russische Musik kein großer Verlust.“ Diese deprimierten Worte schrieb Pjotr I. Tschaikowsky Ende 1876 an seine Schwester, im Alter von knapp 36 Jahren. Alle seine neueren Werke wurden damals von der Öffentlichkeit abgelehnt: Seine Fantasieouvertüre Romeo und Julia wurde in Wien ausgepfiffen und in Paris vom Orchester „verhunzt“, wie ihm sein Schüler Tanejew berichtete. Mit seiner Oper Wakula, der Schmied nach Gogols Weihnachtserzählung war er in Sankt Petersburg auf kühle Distanz gestoßen. Die dritte Symphonie und das heute so berühmte erste Klavierkonzert waren alles andere als unbestrittene Erfolge. Selbst mit seinem Ballett Schwanensee sollte er im Februar 1877 nur einen mäßigen Uraufführungserfolg verbuchen.

In dieser aussichtslosen, auch finanziell deprimierenden Zeit kam ihm ein Auftrag aus Petersburg gerade recht: Ein Musikverleger bestellte bei ihm für eine Monatsschrift zwölf charakteristische Klavierstücke – jeden Monat eines, abzudrucken in der betreffenden Nummer der Zeitschrift, verbunden mit Dichterversen, die seinen Inhalt in Bezug auf den jeweiligen Monat deuteten. Damit er den Auftrag auch jeweils termingerecht erfüllte, bediente sich Tschaikowsky einer List, wie sein Bruder Modest berichtete: „Um den vereinbarten Termin der Zustellung nicht zu versäumen, befahl er seinem Diener, ihn monatlich zu einem bestimmten Datum daran zu erinnern. Der Diener führte prompt den Befehl seines Herrn aus und sagte jedesmal: ‚Pjotr Iljitsch, es wird langsam Zeit, die Sendung nach Petersburg fertigzumachen.’ Und Pjotr Iljitsch setzte sich sofort hin und schrieb in einem Zug das Stück nieder.“

Auf diese kuriose Weise entstanden jene zwölf Klavierstücke, die der Komponist später unter dem Titel Die Jahreszeiten herausgab, nicht Die Monate, denn lose lassen sich die zwölf Stücke als Dreiergruppen den vier Jahreszeiten zuordnen. „Sie sind nur wenig gehaltvoll“, meinte abschätzig der Engländer Edward Garden in seiner Tschaikowsky-Biographie von 1973. Sehr viel bedeutender bewerten russische Pianisten und Kommentatoren diesen Zyklus, der so eng mit der Landschaft und den Gebräuchen Russlands verknüpft ist, dass er außerhalb des Landes kaum verstanden und auch nur selten aufgeführt wird. Deshalb mögen hier Erläuterungen zu jedem der zwölf Stücke am Platz sein.

Januar: Der Zyklus beginnt mit einem Idyll im warmen Zimmer. Am Kamin lautet der Titel dieser einfachen russischen Melodie im gemächlichen Dreiertakt, die jemand vor sich hin zu singen scheint, während er von drinnen dem Schneetreiben zusieht (Moderato semplice, ma espressivo in A-Dur). Der Mittelteil in e-Moll scheint in seinen Leggierissimo-Arpeggien die Schneeflocken zu zeichnen, die vor dem Fenster einen Reigen aufführen, während der Mensch im Zimmer melancholischen Gedanken nachsinnt.

Februar: Ausgelassene Festfreude herrscht im Karneval, einem Allegro giusto in D-Dur. Die Menschen tanzen auf der Straße und in den Ballsälen, chromatisch steigert sich ihre gute Laune bis zur Hemmungslosigkeit. Dazwischen scheinen düstere Masken ihr Unwesen zu treiben.

März: Über dem dichten Schnee (Klanggrund in g-Moll) erhebt sich das Lied der Lerche. Einsam singt sie ihre bizarren Vogelrufe vor sich hin, wie die Sehnsucht nach südlicher Sonne, doch ungehört verhallt ihr Lied im ewigen Weiß (Andantino espressivo).

April: Erst die Schneeglöckchen bringen die Wendung zum Frühling in einem sanft wogenden Allegretto con moto, e un poco rubato in B-Dur. Es ist ein „Lied ohne Worte“, von erwartungsvoller Vorfreude durchbebt. Die imaginäre Singstimme liegt in der Mittelstimme und soll markiert werden. Anweisungen wie con grazia („Mit Grazie“) und dolce („süß“) weisen auf die zarte Tönung des Stimmungsbildes hin, das am Ende morendo („ersterbend“) in einer Arabeske ausklingt.

Mai: Ein Nachtstück folgt, Tschaikowskys Huldigung an die Weißen Nächte seiner Heimat kurz vor der Sommersonnenwende. Feierliche Arpeggi in G-Dur eröffnen das Bild im wiegenden 9/8-Takt (Andantino). Plötzlich brechen flackernde Lichter in die helle Nacht ein (Allegro giocoso). Ihre flirrenden Klänge machen am Ende wieder dem eigenartigen Zauber des G-Dur-Themas Platz.

Juni: Auch das dritte Frühlingsstück des Zyklus’ ist eine zarte Impression: eine Barcarole. Tschaikowsky hat dieses Gondelstück über sanftem Wellenschlag in g-Moll geschrieben, voller Wehmut in der wunderschönen Melodie. Das Stück erinnert daran, dass er im Frühjahr 1874 im Auftrag einer russischen Musikzeitschrift zum ersten Mal Venedig besuchte. Inmitten der Touristen wurde er vom Heimweh nach Russland gequält und von Gewissensbissen, weil er in Italien so viel Geld ausgab, während die Schulden seiner Brüder wuchsen. Das Gondellied wirkt wie ein Echo auf jene traurigen Tage in der Lagunenstadt – ein Andante cantabile mit einer der schönsten Mollmelodien, die Tschaikowsky geschaffen hat, mit einem zarten G-Dur-Mittelteil, einer wehmutsvollen Reprise und einem zart glitzernden Ausklang.

Juli: Das kraftvolle Lied der Schnitter in Es-Dur eröffnet die drei Sommerstücke des Zyklus’ (Allegro moderato con moto). In Russland ist der Sommer nicht die Jahreszeit der ermattenden Hitze und der Gewitter, wie man sie aus Vivaldis Vier Jahreszeiten kennt, sondern vielmehr die Zeit des Landmanns, der bei schönstem Wetter munter zu Werke geht. Für das Schnitterlied hat der Komponist auf Lieder ukrainischer Landarbeiter zurückgegriffen, die er während der Sommermonate beobachten und belauschen konnte.

August: In der Darstellung der Ernte setzt sich das Schnitterlied nahtlos fort, freilich gesteigert zu einem umtriebigen Allegro vivace in h-Moll – mechanisch ratternd wie ein früher Mähdrescher. Umso zarter wirkt der D-Dur-Mittelteil, ein kleines Liebesduett zwischen rechter und linker Hand. Hier scheint sich ein junges Liebespaar von der anstrengenden Ernte zum Schäferstündchen zurückgezogen zu haben – bis die Arbeit unaufhaltsam wieder beginnt.

September: Die Jagd baut die Brücke vom Sommer zum Herbst in Form eines Allegro non troppo in G-Dur, durchdrungen vom Schall imaginärer Jagdhörner. Der erste Teil wirkt so erwartungsvoll und imposant wie der Ausritt einer festlichen Jagdgesellschaft aus einem Schlosshof. Plötzlich erspähen die Jäger das Wild. Sie reiten leise heran, geben den anderen durch die Hörner Zeichen, bis alle auf einmal dem armen Wild im vollen Galopp nachsetzen. Am Ende erklingt ein triumphierendes Hörnersignal: Das Wild ist erlegt.

Oktober: Im Herbstlied breitet sich Melancholie über die Landschaft und die Menschen aus. Dieses Andante doloroso e molto cantabile in d-Moll wartet mit einer weiteren, wunderschönen Mollmelodie auf. Ihr schmerzlicher Anfang geht in wehmütige Triolen über, sie wird im Bass wiederholt und mündet schließlich in einen resignierten d-Moll-Akkord. Der Mittelteil scheint anfangs Trost zu spenden, steigert dann aber die schmerzliche Stimmung ins schier Unermessliche. Die letzten klagenden Wendungen des Satzes klingen im vierfachen Piano aus.

November: Der Titel Troika spielt auf die Pferdeschlitten an, mit denen die Russen den schon im November fallenden, dichten Schnee durchqueren. Hier ist der Schlitten das Symbol für den Abschied von einem geliebten Menschen, für die Wehmut der Trennung, dargestellt in einem Allegro moderato in E-Dur. Einige Verse von Nekrassow stellte der Verleger dem November-Stück voran. Sie erklären seinen Sinn:
„Blicke nicht sehnsuchtsvoll ins Weite,
Eile dem Troikagespann nicht nach,
Lasse für immer ersterben die Saite,
Die im Herzen so schwermütig sprach.“
Tschaikowskys Troikafahrt schildert „vor allem die Sehnsucht und Schwermut des Menschen, erst in zweiter Linie malt sie das winterliche Treiben. Schwerelos und transparent wie klare Winterluft wirkt das in Parallelbewegung vorgetragene Thema, aus dem Abgesang spricht warmes Gefühl … Es spricht für die psychologische Tiefe dieser Musik, dass die eigentliche Troikafahrt erst im Mittelteil berührt wird; und auch da vorläufig nur episodisch, denn zuvor erklingt grazioso ein etwas wehmütiger Gesang, in den immer wieder die Glöckchen der Troika einfallen. Eine hell klingende Sechzehntel-Figuration, bezogen aus jenem Glöckchen-Motiv, schichtet Tschaikowsky im letzten, dritten Abschnitt dem wiederkehrenden, von der linken Hand marcato gestalteten Hauptthema auf. Mit diesem Glöckchen- und Schellengeläut entfernt sich die Troika und mit ihr die Hoffnung auf Wiederkehr.“ (Christof Rüger) In den Klavierabenden von Sergej Rachmaninow nahm dieses Stück einen Ehrenplatz ein, fast trocken und lakonisch gespielt, wie man leicht auf You Tube nachprüfen kann – mit einem langen Decrescendo am Ende, das den Schlitten förmlich in der Ferne verschwinden lässt.

Dezember: Der Zyklus schließt versöhnlich, mit der Vorfreude auf Weihnachten in Form eines Walzers in As-Dur. Kein Weihnachtslied setzte Tschaikowsky als Symbol für das Fest ein, auch keine der Spukgeschichten über die Heilige Nacht, wie er sie kurz vor den Jahreszeiten in seiner Gogoloper Wakula, der Schmied verarbeitet hatte. Stattdessen verweist der schlichte Walzer auf die festlichen Ballette der Weihnachtszeit. So wie Tschaikowsky Jahre später der kindlichen Weihnachtsfreude durch sein Ballett Der Nussknacker Ausdruck verleihen sollte, so hat er hier dem eleganten Tanz das letzte Wort im Kalender überlassen.