Sextett B-Dur für Flöte, Oboe, Klarinette, Horn, Fagott und Klavier, op. 6
Werkverzeichnisnummer: 1948
1. Allegro moderato
2. Larghetto
3. Gavotte. Andante, quasi allegretto
4. Finale. Vivace
Glaubt man Herbert Rosendorfer, dem Münchener Staatsanwalt und Autor des Romans Briefe in die chinesische Vergangenheit, so hat den Komponisten Ludwig Thuille ein ungerechtes Schicksal ereilt. Mit vielen anderen Talenten, „die entweder nicht genug Kraft oder nicht genug Glück (oder keines von beiden) gehabt haben“, teile er das Schicksal, als „Kleinmeister“ eingestuft zu werden, als einer von jenen „Eklektizisten…, von denen, wenn der Himmel es gut mit ihnen meinte, vielleicht ein Werk im Repertoire überlebt, und die, wenn der Himmel es weniger gut meint, als Lexikon-Leichen von der Scheibe des Nachruhms geschleudert werden.“ In der Tat: Ludwig Thuille ist heute eine musikhistorische „Lexikon-Leiche“. Vergessen seine großen Opern Theuerdank, Lobetanz und Gugeline, letztere immerhin 1900 zu Mainz gedruckt. Vergessen auch die 78 Lieder, seine vier großen symphonischen Werke und die Kammermusik. Nur zwei Opera hielten sein Andenken in Fachkreisen wach: die gemeinsam mit Rudolf Louis herausgegebene Harmonielehre, der sogenannte „Louis-Thuille“, und das Sextett, op. 6, für Klavier und Bläser. Und auch dieses erklingt meist nur in einem Zusammenhang: als Werk eines Jugendfreundes von Richard Strauss.
In baiuvarischem Überschwang nannte Strauss den drei Jahre älteren Thuille seinen „liebsten, besten, schönsten, herrlichsten Ludwig“, und die enge Freundschaft schlug sich in gegenseitigen Widmungen früher Werke nieder. Beide jungen Männer schickten sich damals an, sich aus dem Schatten ihrer Lehrer um Reinberger zu lösen und selbst schulbildend zu wirken – Strauss sehr bald auf nationalem und internationalem Parkett, Thuille daheim in der bayerischen Metropole als späteres Haupt der so genannten Münchner Schule. Es war Ironie der Geschichte, dass dieser scheinbar so erzbayerisch agierende Meister ein Östtereicher war. Er stammte aus Bozen im damals habsburgischen Südtirol, wurde im großen Barockkloster Kremsmünster musikalisch erzogen und kam dann erst nach München – mit reichlich Bruckner im Kopf, den ihm sein Münchner Professor Rheinberger rasch mit klassischen Formbegriffen austrieb. Das Ergebnis waren klassizistisch ebenmäßig gebaute Werke wie das Quintett Opus 6. Es lohnt sich, seine Geschichte etwas ausführlicher zu erzählen.
Nach der Vollendung seiner ersten (und zugleich einzigen) Sinfonie in F-Dur Ende 1885 trug sich der gerade erst 24-jährige Thuille, seit zwei Jahren Lehrer für Klavier und Harmonielehre an der königlichen Musikschule in München, mit dem Plan, ein Sextett für Klavier und Bläser zu komponieren. Er besprach sich darüber mit seinem Freund Strauss, damals als Dirigierassistent Hans von Bülows in Meiningen tätig. Strauss riet ab, und Thuille wurde unsicher, begann dann aber doch im Januar 1886 mit der Komposition. Zunächst fiel ihm die Arbeit nicht leicht: „Mein Sextett“, so schrieb er an Strauss, „geht nur sehr langsam vorwärts, da mir das ungewohnte Material viel Kopfzerbrechen sowohl nach Seite der Erfindung als auch Ausführung macht.“ Erst zwei Jahre später, 1888, wurde das Stück fertig und 1889 auf der Tonkünstlerversammlung des Allgemeinen Deutschen Musikvereins in Wiesbaden uraufgeführt.
Die Zeit der Entstehung des Sextetts bildet für Thuilles privates wie berufliches Leben einen wichtigen Abschnitt: als Lehrer offenbar von Anfang an sehr erfolgreich, wird er 1888 zum Professor ernannt und im gleichen Jahr (er hatte 1887 geheiratet) Vater eines Sohnes. 1886 beginnt zudem ein intensiver künstlerischer Austausch mit Strauss, der die Stelle des 3. Kapellmeisters an der Münchner Hofoper antritt, sowie, durch Strauss vermittelt, mit dem knapp 30 Jahre älteren Alexander Ritter, einem fanatischen Wagnerianer und Verehrer Franz Liszts. Drei Jahre lang treffen sich die Freunde regelmäßig zur „Ritterschen Tafelrunde“, der entschiedensten Hochburg des Wagner-Geistes in München.
Ritters Eintreten für Wagner und Liszt blieb bei dem bis dahin ganz in klassizistischem Geist aufgewachsenen Thuille nicht folgenlos: Zählt er 1884 noch Liszts 1. Klavierkonzert zum „Unglaublichsten, was ich mir überhaupt vorstellen kann – nämlich an Schundmäßigkeit“, so bemüht er sich fünf Jahre später darum, möglichst oft „den erhabenen Namen Liszt’s“ auf den Programmen seiner eigenen Chorkonzerte erscheinen zu lassen. Dennoch komponiert Thuille gerade in dieser Zeit kein Musikdrama alla Wagner und keine Symphonische Dichtung alla Liszt, sondern Kammermusik – bei Wagnerianern im allgemeinen ein Unwort. Der Tonfall, in dem das Sextett beginnt – ein ruhiges Hornsolo über dem leicht bewegten B-Dur-Klang des Klaviers -, ist denn auch nichts anderes als eine Verbeugung vor dem von Ritter geradezu verabscheuten Johannes Brahms; die Ähnlichkeit mit dem Beginn von dessen 2. Klavierkonzert ist mehr als ein Zufall. Aufgeschlossenheit für die fortschrittlichen Werke Wagners und Liszts, zugleich aber das Festhalten an den Vorbildern Schumann und Brahms: damit sind die zwei Pole genannt, die Thuilles weiteres kompositorisches Schaffen sowie das seiner zahlreichen Schüler im Rahmen der „Münchner Schule“ prägen sollte. Mit seinem Opus 6 schuf er für diesen Stil gleichsam den Prototyp.
Satzfolge, Themen- und Motivbildung des Sextetts sind der Tradition verpflichtet; vom Vorbild Brahms‘ (nicht zuletzt auch in der Gestaltung des Klavierparts) war schon die Rede. Auch dass der 3. Satz das übliche Scherzo durch eine Gavotte ersetzt, erscheint als Tribut an den Serenadengeist der Epoche. Nur gelegentlich verraten motivische, rhythmisch-metrische und vor allem harmonische Details, dass das Stück am Ende des 19. Jahrhunderts verfast wurde: Zu Beginn des Kopfsatzes wird die zunächst exponierte Haupttonart B-Dur durch Wiederholungen des 1. Gedankens in As- und Ges-Dur sogleich wieder in Frage gestellt, im Mittelteil des zweiten Satzes folgt dem es-Moll-Thema der Bläser eine rhythmisch kunstvoll verschleierte Themenvariante, und das zunächst kaum wahrgenommene „ges“ im Hauptthema des Finales nimmt der Komponist in der Coda zum Anlass für Akkordfolgen, die eine nahezu impressionistische Klanglichkeit evozieren.
1996
Ludwig Thuille: Sextett, op. 6
Der in Bozen geborene, in Kremsmünster und Innsbruck musikalisch aufgewachsene Ludwig Thuille nimmt in der Münchner Musikgeschichte des späten 19. Jahrhunderts eine zentrale Stellung ein: als Professor für Komposition prägte er eine ganze Generation von Münchner Komponisten, die sog. Münchner Schule; durch seine weitverbreitete Harmonielehre wirkte er auf Musikschaffende in ganz Deutschland; stilistisch gehörte er zu den Vorkämpfern der Neudeutschen Schule und setzte sich – wenn auch in moderater Weise – für die Musik Liszts und Wagners ein. In seinen eigenen Werken suchte er freilich eher nach einem Kompromiß zwischen seinen klassizistischen Wurzeln und dem später erst in München angenomenen neuen Einfluß, der vor allem auf die sog. „Ritter’sche Tafelrunde“ des glühenden Wagnerianers Alexander Ritter zurückzuführen war. „Ritters Eintreten für Wagner und Liszt blieb bei dem bis dahin ganz in klassizistischem Geist aufgewachsenen Thuille nicht folgenlos: Zählt er 1884 noch Liszts 1. Klavierkonzert zum ‚Unglaublichsten, was ich mir überhaupt vorstellen kann – nämlich an Schundmäßigkeit‘, so bemüht er sich fünf Jahre später darum, möglichst oft ‚den erhabenen Namen Liszt’s‘ auf den Programmen seiner eigenen Chorkonzerte erscheinen zu lassen. Dennoch komponiert Thuille gerade in dieser Zeit kein Musikdrama alla Wagner oder eine Symphonische Dichtung a la Liszt, sondern ein – freilich unkonventionell besetztes – Kammermusikwerk“ (Walter Werbeck).: das Sextett für Klavier und Bläserquintett, op. 6.
Thuille faßte den Plan zu dem Werk nach der Vollendung seiner ersten (und einzigen) Sinfonie Ende 1885, wurde aber durch das Abraten seines Freundes Richard Strauss verunsichert. Als er im Januar 1886 doch mit der Komposition begann, bereitete ihm die ungewöhnliche Instrumentation erhebliche Schwierigkeiten: „Mein Sextett“, schrieb er an Strauss, „geht nur sehr langsam vorwärts, da mir das ungewohnte Material viel Kopfzerbrechen sowohl nach Seite der Erfindung als auch Ausführung macht.“ Erst 1888 beendet, wurde das Stück im folgenden Jahr in Wiesbaden uraufgeführt.
WalterWerbeck schreibt über den Stil des Werkes: „Der Tonfall, mit dem das Sextett beginnt – ein ruhiges Hornsolo über dem leicht bewegten B-Dur-Klang des Klaviers-, kann kaum anders denn als Verbeugung vor dem von Ritter geradezu verabscheuten Johannes Brahms verstanden werden (die Ähnlichkeit mit dem Beginn von dessen 2. Klavierkonzert ist zu groß, um als Zufall gelten zu können). Aufgeschlossenheit für die fortschrittlichen Werke Wagners und Liszts, zugleich aber das Festhalten am klassizistischen, für Thuille insbesondere in den Werken Schumanns und Brahms‘ manifestierten Erbe: damit sind die zwei wesentlichen Faktoren genannt, die Thuilles weiteres kompositorisches Oeuvre … prägen, und die auch schon in seinem Sextett spürbar (und hörbar) sind. Die kammermusikalische Intimität, die Folge und formalen Dispositionen der einzelnen Sätze, auch die Themen- und Motivbildung sind in Thuilles op. 6 unverkennbar – trotz der unklassischen Besetzung – der Tradition verpflichtet; vom Vorbild Brahms‘ (nicht zuletzt auch in der Gestaltung des Klavierparts) war schon die Rede… Nur gelegentlich verraten motivische, rhythmisch-metrische und vor allem harmonische Details, daß das Stück am Ende des 19. Jahrhunderts verfaßt wurde: Zu Beginn des Kopfsatzes wird die zunächst exponierte Haupttonart B-Dur durch Wiederholungen des 1. Gedankens in As- und Ges-Dur sogleich wieder in Frage gestellt, im Mittelteil des zweiten Satzes folgt dem es-Moll-Thema der Bläser später eine rhythmisch kunstvoll verschleierte Themenvariante, und das zunächst kaum wahrgenommene ‚ges‘ im Hauptthema des Finales nimmt der Komponist in der Satzcoda zum Anlaß für Akkordfolgen, die eine nahezu impressionistische Klanglichkeit evozieren.“ (kb)