"L' Histoire du Soldat" | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Igor Strawinsky

"L' Histoire du Soldat"

„L‘ Histoire du Soldat“ (Die Geschichte vom Soldaten)

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 1901

Satzbezeichnungen

1. Marche du Soldat
2. Rag time

3. Musique de la 1ère Scene
4. Danse du Diable

5. Musique de la 2ème Scene

6. Petit Choral

7. Musique de la 3ème Scene

8. Couplet du Diable

9. Marche du Soldat 10. Grand Choral
1
1. Marche Royale 1
2. Marche triomphale du Diable
1
3. Petit Concert
1
4. Trois Danses
1
5. Valse

Erläuterungen

2004
IGOR STRAWINSKY
Geschichte vom Soldaten

Von Igor Strawinsky zeichnete der schon eingangs zitierte Nathan Milstein ein ähnlich schonungsloses Bild wie von Prokofieff: „Über Jacken, Hemden oder Krawatten redete Strawinsky mit echter Begeisterung. Bei diesen Themen akzeptierte ich seine Autorität voll und ganz. Sprach er jedoch über Musik, so hatte ich manchmal Zweifel an seinen Motiven. Da spielte so viel hinein: wunderbar sensible Empfindungen, Opportunismus und Versuche, den Bürgerschreck zu spielen… Zu gleicher Zeit sehe ich in Strawinskys Vorliebe für das Schlagwerk (und für plötzliche Schläge) etwas, das seinem Charakter absolut entspricht. Als Mensch war Strawinsky das, was die Deutschen ‚bissig‘ nennen. Er provozierte, stichelte und verletzte ausgesprochen gern. (Bei kleinen Menschen findet man das oft. Strawinsky wurde mit den Jahren immer kleiner, fast als hätte man ihn zu heiß gebadet; er schrumpfte und schrumpfte).“ Neben dieser eher respektlosen Schilderung des Menschen Strawinsky finden sich in den Erinnerungen Milsteins auch Bemerkungen zu seiner Musik, die auf die Geschichte vom Soldaten zutreffen: „Für Strawinsky war der Rhythmus wie ein Gott. Die Vielfalt an Rhythmen in Strawinskys Musik ist erstaunlich … Ich glaube, dass sein Genie als Komponist am besten in seinen kleinen Kammermusikwerken zu erkennen ist. Dabei fällt auf, dass er verschiedene Kombinationen von Blasinstrumenten bevorzugt.“ In der Geschichte vom Soldaten gesellen sich zu einer solchen kleinen Bläsergruppe eine Geige, ein Kontrabass und Schlagzeug.

Aus den altrussischen Moritatensammlungen des Volkskundlers Afanassjew bezog Igor Strawinsky den Stoff für seine Geschichte. Der Schweizer Übersetzer und Dichter Charles Ramuz übertrug die Textvorlagen ins Französische, die deutsche Einrichtung besorgte Hans Reinhart. Gleichgültig, in welcher Sprache man die Geschichte vorträgt, bleibt sie tief im russischen Volksgut verwurzelt. Strawinsky meinte, es sei eine Moritat „zu lesen, zu spielen, zu tanzen“. Wir belassen es heute beim Lesen, das August Schmölzer besorgt. Er liest den Part des Erzählers und verkörpert die beiden Spielrollen des Soldaten und des Teufels. (Die textlose Tanzrolle der Prinzessin müssen wir uns hinzudenken.) Die Erzählung wird von der Musik teils untermalt, teils unterbrochen.
Der Schweizer Ramuz war es, der Strawinsky vorschlug, „mit möglichst geringen Mitteln eine Wanderbühne zu gründen, die man leicht von Ort zu Ort schaffen und auch in ganz kleinen Lokalen vorführen kann.“ Es war eine aus der Kriegsnot geborene Idee, die darauf abzielte, fern des Wagner-Pathos ein „Gesamtkunstwerk en miniature“ zu schaffen – für sieben Instrumentalisten, drei Schauspieler und eine Tänzerin. In fast brechtscher Knappheit wird das Märchen erzählt, man spürt allenthalben den Zeitgeist. Die Uraufführung fand unter der Leitung von Ernest Ansermet im September 1918 im Théâtre Municipal de Lausanne statt. Sie war von dem Winterthurer Kunstmäzen Werner Reinhart ermöglicht worden, dem Strawinsky das Werk widmete. Obwohl eine Grippe-Epidemie den unmittelbaren Erfolg der Premiere verhinderte, kam es – auch dank mehrerer Aufführungen in Deutschland (durch Paul Hindemith und im Bauhaus in Weimar) – ab den 1920er Jahren zum Siegeszug des Werkes in ganz Europa.

Der Pakt zwischen Mensch und Teufel, ein altes Lieblingsthema das Volkstheaters von den Wanderbühnen bis zum Puppenspiel, wurde von Strawinsky und Ramuz noch ganz in der ursprünglichen, schlicht-volkstümlichen Weise erzählt. Die Handlung ist einfach in drei Szenen strukturiert. Die Musik folgt ihr illustrierend, karikierend. Dabei gewinnt die Geige symbolische Bedeutung. Sie ist nicht nur das Instrument das Soldaten, sondern zugleich das Symbol für seine Seele. Beides verkauft er an den Teufel, um in den Besitz eines Zauberbuchs zu gelangen.

Zu Beginn sehen wir den Soldaten auf dem Rückmarsch vom Feldzug (Marsch des Soldaten), auf dem er vom Teufel zu dem Handel überredet wird. Das Zauberbuch bringt ihm zwar Reichtu, aber Einsamkeit: als er in sein Heimatdorf zurückkehrt, kennt ihn dort keiner mehr. Zu spät erkennt der Soldat die Wahrheit. Er versucht, seine Geige einem alten Teufelsweib zu entreißen, doch sie gibt keinen Ton mehr von sich. Er wirft sie weg und zerreißt das Zauberbuch,„ein armer Teufel, verraten und verkauft“ (Lindlar).

In der zweiten Szene finden wir den Soldaten am Königshof, wo er durch sein Spiel die kranke Prinzessin heilt. Sie wird seine Frau, der Teufel scheint aus dem Weg geräumt. Doch als der Soldat in der dritten Szene mit seiner Frau die Grenzlinie des Paktes passiert, treibt ihn der Teufel fiedelnd in die Hölle.
Die musikalischen Zwischenspiele schildern die verschiedenen Szenen anschaulich. Die drei Tanzminiaturen etwa, die beim Tanz der Prinzessin erklingen, sind ein Tango, eine English-Waltz und ein Ragtime, Modetänze, die erst damals ins Vokabular der „Ernsten Musik“ übergingen. Der Teufelstanz ist eine orgiastische Zusammenballung von Rhythmen und Klängen. Ein kleiner und ein großer Choral verkehren Satztechniken der Kirchenmusik ins Groteske. Die lauten, „ungehobelten“ Klänge des Bläserquartetts aus Klarinette, Fagott, Trompete (ursprünglich Cornett) und Posaune, die trocken-kantigen Rhythmen, die vom Schlagzeug untermalt werden, die volkstümlich anmutenden Doppelgriffe der Geige und die scheinbar dissonanten Basslinien des Kontrabasses verleihen der Musik das typische Gepräge der Musik um 1920, die Strawinsky wesentlich mit geprägt hat. Neben diesen sozusagen zeitgeistigen Klangfarben ist der Rhythmus das beherrschende Element. Hinzu kommt freilich jenes Moment des Volkstümlich-Russischen, eine in den Noten liegende tiefe Melancholie, die zeigt, wie sehr Strawinksy seiner Heimat verhaftet blieb. (Karl Böhmer)