Sextett für Streicher aus der Oper Capriccio, op. 85
Werkverzeichnisnummer: 1886
Andante con moto
28. Oktober 1942: Deutsche U-Boote torpedieren im Nordatlantik einen amerikanischen Konvoi und versenken zwei Schiffe. Der erste Transport von 2000 Juden aus Theresienstadt kommt in Auschwitz an; fast alle werden noch an diesem Tag sterben – die Massenvernichtung der Juden hat Anfang Oktober begonnen. In Salzburg wird der österreichische Kommunist Franz Amberger zum Tode verurteilt; er wird später in München-Stadelheim enthauptet. Das Münchner Opernpublikum jubelt der Uraufführung einer neuen Oper zu: „Capriccio“, ein „Konversationsstück für Musik in einem Akt von Clemens Krauss und Richard Strauss“.
Wohl selten war eine Oper im Kontext der historischen Ereignisse weltfremder als das letzte Bühnenwerk von Strauss. Die heile Welt des 18. Jahrhunderts, in der sich die Handlung abspielt, der gelehrt-galante Widerstreit zwischen Wort und Ton auf der Opernbühne – nach dem Vorbild der Wiener Opera buffa „Prima la musica“ von Salieri und Casti von 1786 – und die Liebe zweier junger Künstler zu einer Gräfin suggerierten „L’art pour l’art“, Schönheit um ihrer selbst willen. Nicht weniger als die Filme der UFA („Wir machen Musik“ mit Ilse Werner wurde 20 Tage zuvor uraufgeführt) lenkte das Stück von den ungeheuerlichen Ereignissen an der Front, in den Konzentrationslagern, in den Gefängnissen ab. Sie waren für diesen Abend in München ausgeschaltet. Vier Wochen später fielen die ersten britischen Bomben auf Berlin, wurde die 6. Armee in Stalingrad eingekesselt.
Auch die Musik wirkt ihrer Zeit entrückt: Mit den Mitteln des späten 19. Jahrhunderts wird hier in einem Werk aus der Mitte des 20. die Zeit des späten 18. beschrieben – Mozart im Brahms-Tonfall des späten Strauss. Im Streichsextett, mit dem die Handlung anhebt, ist dieser „entrückte“ Tonfall wie in einer Momentaufnahme eingefangen.
Zu Beginn der Handlung lauschen hohe Herrschaften dem Sextett, dessen Klänge aus dem Nebenzimmer in den Gartensaal des Schlosses herüberwehen. Der junge Flamand, Komponist des Werkes, und sein Rivale Olivier, Textdichter, schauen gebannt auf die Gräfin, die sie beide anbeten: Ob die Liebesbotschaft in den Tönen des Sextetts die hohe Dame wohl erreichen wird? Der Theaterdirektor La Roche ist derweil auf seinem Sessel eingenickt. Just zur Zeit der Opernhandlung, um 1775, veröffentlichte Luigi Boccherini in Paris die ersten Streichsextette der Musikgeschichte. Dass Strauss dieses Fünkchen musikhistorischer Wahrheit gekannt haben könnte, als er das Capriccio-Sextett schrieb, ist eher unwahrscheinlich, denn der Satz ist zweifellos mehr Ausdruck von Flamands Liebe zur schönen Gräfin als musikhistorisches Abbild eines Streichsextetts um 1775. „Thematischer Keim des ca. zehnminütigen Stückes ist ein einfaches Fünfton-Motiv. Es erklingt gleich zu Beginn in der 1. Violine, erlebt dann mannigfaltige Veränderungen, Entwicklungen und Weiterführungen, bleibt in seiner Urform aber ebenfalls ständig präsent. Noch einmal hat sich der fast 80jährige Strauss in diesem Sextett Johannes Brahms und dessen Variationstechnik genähert – und ist doch so ganz er selber geblieben.“ (Karsten Bartels)