Streichquartett F-Dur, op. 135 | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Ludwig van Beethoven

Streichquartett F-Dur, op. 135

Quartett F-Dur für zwei Violinen, Viola und Violoncello, op. 135

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 178

Satzbezeichnungen

1. Allegretto
2. Vivace
3. Lento assai e cantante tranquillo
4. Der schwer gefaßte Entschluß: Grave, ma non troppo tratto – Allegro

Erläuterungen

Zu den glücklichen Momenten nicht nur der Wiener Musikgeschichte gehört jener Tag des Jahres 1823, an dem der Geiger Ignaz Schuppanzigh in seine Heimatstadt zurückkehrte. Der ebenso korpulente wie feurige Violinvirtuose, den Beethoven liebevoll “Milord Falstaff” nannte, nahm umgehend seinen Posten als Primarius im 1804 gegründeten eigenen Streichquartett wieder auf. Diesem Umstand, der Aura des Wiener Primarius Schuppanzigh, haben wir die späten Streichquartette sowohl Schuberts als auch Beethovens zu verdanken.

Letztere, die fünf Quartette Opera 127, 130, 131, 132 und 135, sowie die Große Fuge, op. 133, waren allesamt Schuppanzighs kurzen Fingern auf den geigerischen Leib geschneidert. Dies bedeutete keineswegs, dass der gestrenge Meister mit seinem treuen Primarius gefällig umgegangen wäre: Die berüchtigten technischen und klanglichen Schwierigkeiten dieser späten Beethovenquartette bekamen Schuppanzigh und seine Quartettkollegen Holz (2. Violine), Weiss (Bratsche) und Linke (Cello) mit gnadenloser Härte zu spüren. Zwei Wochen Proben reichten nicht aus, um die Uraufführung des Quartetts Opus 127 sauber zu absolvieren, was Beethoven zu einem fürchterlichen Wutanfall veranlasste. Dennoch leitete Schuppanzigh auch die Premieren der folgenden späten Quartette bis hin zum letzten, dem F-Dur-Quartett, Opus 135. Die Entstehung dieses Werkes war freilich von privaten Krisen überschattet.

Beethoven anno 1826

„Während des Komponierens der drei vom Fürsten Galizin gewünschten Quartette strömte aus der unerschöpflichen Fantasie Beethovens ein solcher Reichtum neuer Quartett-Ideen, dass er beinahe unwillkürlich noch das Cis-Moll- und F-Dur-Quartett schreiben musste. ‚Bester, mir ist schon wieder was eingefallen!’ pflegte er scherzend und mit glänzenden Augen zu sagen, wenn wir spazieren gingen: dabei schrieb er einige Noten in sein Skizzenbüchlein.“ So berichtete der Geiger Karl Holz von der gleichsam überbordenden Inspiration des 55-jährigen Beethoven. Auf diese fast heitere Weise ist ab Juli 1826 das F-Dur-Quartett Opus 135 entstanden, was in krassem Widerspruch zu Beethovens damaligen Lebensverhältnissen stand.

Neffe Karl

Die Spannungen zwischen dem tauben, kranken und immer gereizter werdenden Komponisten und seinem Neffen Karl verschärften sich im Sommer 1826 dermaßen, dass der Gymnasiast – getrieben von Spielschulden und dem Gefühl der Ausweglosigkeit – einen Selbstmordversuch beging. Zwar gelang es seinem Vermieter, den Plan zu durchkreuzen, indem er eine Pistole aus Karls Zimmer entfernte und Beethoven warnte. Unschwer freilich gelangte der junge Mann in den Besitz einer zweiten Pistole und schoss sich eine Kugel in den Kopf. Eine zweite Kugel verfehlte Gott sei Dank ihr Ziel. Was folgte, war ein Wiener Skandal: Obwohl Beethoven seinen vertrauten Arzt Smetana zu Rate zog und das Ganze als Unfall ausgab, wusste bald die ganze Stadt, dass der als liederlich verschriene Neffe selbst Hand an sich gelegt hatte.

Da Selbstmord im katholischen Wien als schweres Verbrechen galt, wurde Karl nach der Operation zunächst in die geschlossene Abteilung des Wiener Krankenhauses eingeliefert, dann für eine Nacht in Polizeigewahrsam. Es gelang Beethoven, ihn dort herauszuholen und mit nach Gneixendorf zu nehmen, wo sein reicher Apothekerbruder Johann ein Waldschlösschen besaß. Dort fanden Onkel und Neffe ab Ende September für zwei Monate Unterschlupf. In relativer Ruhe konnte Beethoven dort sein F-Dur-Quartett vollenden. Derweil wurde in Wien daran gearbeitet, dem Neffen einen Platz in einem Regiment zu verschaffen, was tatsächlich auch gelang. Im November kehrten die Beiden nach Wien zurück. Das Quartett musste in Stimmen ausgeschrieben, der Neffe zum Militär eingekleidet werden. Soweit die dramatischen Hintergründe von Beethovens letztem Streichquartett, dessen Musik im krassen Gegensatz dazu steht.

Quartett F-Dur, op. 135

Arnold Werner-Jensen bemerkte zu Opus 135, es ziehe „auf unauffällige, unaufwendige und doch kunstvolle Weise Bilanz“. Angesichts seiner „stillen, fast abstrakten Heiterkeit“ habe man den Eindruck, „dass Beethoven sich sehr bewusst war, hier sein letztes Wort in dieser Gattung zu sagen“. Tatsächlich sollte er nach der Vollendung des F-Dur-Quartetts nur noch ein einziges Werk schreiben: den neuen Finalsatz für Opus 130 anstelle der Großen Fuge. Opus 135 blieb sein letztes Streichquartett.

Der erste Satz ist ein Allegretto im Zweivierteltakt. Er beginnt mit einer fast beiläufigen Figur der Bratsche, die mit ihrem Schleifer und ihrem punktierten Rhythmus den spielerischen Tonfall festlegt. Nach vier Takten auf der Dominante lenkt die Bratsche nach F-Dur und ins Hauptthema ein, das ganz vom Drei-Sechzehntel-Auftakt geprägt wird. Die beiden Geigen greifen diese Figur auf, während das Cello sanftes Pizzicato beisteuert. Das ganze Hauptthema entfaltet sich in „durchbrochener Arbeit“: Das Kopfmotiv wandert von Stimme zu Stimme, erst aufsteigend, dann absteigend. Es folgt ein Unisono aller vier Instrumente in Vierteln. Aus diesem Motiv werden sich im Lauf des Satzes allerhand kontrapunktische Verflechtungen ergeben, während das Seitenthema aus nichts anderem als einer Triolenspielerei und aufsteigenden Dreiklängen besteht. Auch die Schlussgruppe wirkt eher episodisch, während dazwischen immer wieder das Hauptthema die Oberhand gewinnt. In der Durchführung werden alle Motive gleichzeitig verarbeitet, wobei besonders der burschikose Schleifer ein unbotmäßiges Eigenleben führt. Reprise und Coda sind gänzlich undramatisch und stehen zu den ersten beiden Abschnitten in ausgewogener Proportion.

Das Scherzo steht im rasend schnellen Vivace-Tempo und lebt von den Synkopen seines mitreißenden Themas. Dazwischen schieben sich Dissonanzen als störende Elemente. Das Trio beginnt mit rasanten Aufgängen der ersten Violine, später gefolgt von einem Bauerntanz, den die übrigen Instrumente mit einem störrisch wiederholten Motiv begleiten. Der ganzeSatz dauert samt Reprise des Hauptteils nur drei Minuten.

Den langsamen Satz hat Beethoven mit einer extrem differenzierten Vortragsanweisung versehen: Lento assai, cantante e tranquillo, „langsam genug, singend und ruhig“. Dies war nötig, da der Satz im Sechsachteltakt steht, was Musiker im frühen 19. Jahrhundert normalerweise zu einem zügigen Tempo verleitet hätte. Hier aber rechnete Beethoven mit einer Ausführung in sehr ruhigen Achteln, denn das herrliche Des-Dur-Thema, das die Violine anstimmt, soll sich ruhig fließend entfalten. Ohne jemals Des-Dur zu verlassen, füllt es acht Takte zwanglos aus, gefolgt von zwei Takten Nachspiel. Diese zehn Takte werden anschließend vier Variationen unterzogen, die ihren Charakter zum Teil völlig verändern. Die erste Variation schließt sich nahtlos an, die zweite aber verfremdet das Thema zu einem Più lento in cis-Moll aus lauter leisen stockenden Akkorden, von Pausen unterbrochen. In der dritten Variation liegt die Melodie im Cello, in der vierten wandert sie zwar wieder in die Geige, nun aber aufgelöst in wunderschöne, „sprechende“ Ornamente.

Der berühmteste Satz des Werkes ist das Finale, und zwar wegen seiner Überschrift: Der schwer gefasste Entschluss. Dieser seltsame Titel wird durch zwei textierte Notenbeispiele erläutert, die Beethoven unten auf die erste Partiturseite setzte: Auf ein f-Moll-Grave im Bass-Schlüssel mit der Frage „Muss es sein?“ antwortet ein F-Dur-Allegro im Violinschlüssel mit dem doppelten Motiv „Es muss sein, es muss sein“. Dabei handelt es sich um die beiden Themen des Finales: Die Frage eröffnet die langsame Einleitung, die Antwort das Allegro. Schwer und lastend beginnt die Einleitung mit der Frage in Bratsche und Cello: „Muss es sein?“ Der Charakter ist Grave ma non troppo tratto („schwer, aber nicht allzu gezogen“). Die Geigen reagieren mit leisen Legatolinien, die später im Allegro wiederkehren. Immer dringlicher stellt das Cello die Frage, immer gereizter reagieren die Oberstimmen. Endlich geben die Geigen die doppelte Antwort: „Es muss sein, es muss sein!“ Das muntere Dreitonmotiv in F-Dur eröffnet das Allegro, das scheinbar ganz vom drängend fröhlichen Duktus beherrscht wird. Auch das Seitenthema in A-Dur wirkt heiter gelöst, eine simple Tanzweise. In der Durchführung werden beide Themen durcheinandergewirbelt, bis plötzlich dunkle Molltöne das Dur überschatten. In wildes Tremolo gehüllt, kehrt die Frage aus der Einleitung wieder: „Muss es sein?“ Sie wirkt nun bohrend schicksalsschwer, wie die existenzielle Frage nach der Unausweichlichkeit des Todes, die sich Beethoven angesichts seiner schweren gesundheitlichen Krisen anno 1826 gestellt haben mag. Doch die Antwort bleibt zuversichtlich: Das Allegro kehrt wieder. Nach einer zweiten Verschattung der Harmonien wendet sich die Coda ins Ironische: Das Seitenthema wird nun mit gezupften Saiten gespielt, bevor am Ende alle Stimmen unablässig ihr „Es muss sein“ wiederholen.

Warum Beethoven sein vorletztes Quartettfinale dermaßen verschlüsselt hat, ist bis heute unklar. Manche deuten das doppelte Motto als fatalistischen Abschied von der Welt, die meisten freilich als die letzte Pointe eines großen Humoristen. In einem Brief an seinen Verleger Schlesinger erklärte Beethoven die Überschrift mit seinem schwer gefassten Entschluss, das im voraus bezahlte Quartett überhaupt zu vollenden, wozu sich der kranke Meister angeblich nur mit letzter Kraft entschließen konnte. Die Wurzel der beiden Motive war freilich ein anderer „schwer gefasster Entschluss“: Der Wiener Hofkriegsagent Dembscher hatte sich bei Ignaz Schuppanzigh die Stimmen zum Quartett Opus 130 ausgeliehen, wollte dafür aber nichts bezahlen. Beethoven bestand darauf, dass er dem Geiger 50 Gulden überreiche, worauf der Wiener maliziös antwortete: „Wenn es sein muss!“ Spontan skizzierte Beethoven einen Kanon mit dem Text „Es muss sein, es muss sein, ja, ja, es muss sein! Heraus mit dem Beutel!“ Der Anfang dieses Kanons und das „Es muss sein“ aus dem Quartettfinale sind identisch. Man kann sich leicht vorstellen, wie Beethoven die groteske Szene mit Dembscher den Streichern des Schuppanzigh-Quartetts erzählte und dabei in schallendes Gelächter ausbrach. Dieses Lachen steht unüberhörbar hinter den Allegro-Teilen des Finales.