„Variations pour le Pianoforte et Flûte“ (Introduktion und Variationen für Flöte und Klavier, D 802, über Trockne Blumen aus Die schöne Müllerin)
Werkverzeichnisnummer: 1752
Introduktion (Andante) -
Thema (Andantino) -
Variationen I-VI -
Variation VII (Allegro)
Franz Schuberts einziges Werk für die Flöte gibt der Forschung einige Rätsel auf. Es handelt sich um Introduktion und Variationen über das Lied „Trockne Blumen“ aus der „Schönen Müllerin“. Die Originalhandschrift, die sich heute in der Wiener Stadtbibliothek befindet, trägt den Titel „Variations pour le Pianoforte et Flûte“ und die eigenhändige Datierung Januar 1824. Nicht zufällig ist das Klavier hier an erster Stelle genannt: Der Klavierpart ist ebenso schwer wie die virtuose Flötenstimme. Die virtuose Faktur beider Partien findet ihre Erklärung in Schuberts Freundeskreis.
Bei dem Thema „Ihr Blümlein alle“ handelt es sich um das 18. Lied aus der „Schönen Müllerin“, die im November 1823 vollendet wurde. Bis das drittletzte Lied im Druck erschien, vergingen allerdings Monate, denn der Verleger brachte den Liederzyklus in fünf Heften heraus: „Trockne Blumen“ eröffnet das fünfte Heft vom August 1824. Im Januar, als Schubert seine Variationen komponierte, war dieses Lied also nur seinen engsten Freunden bekannt. Dazu passt der Hinweis seines ersten Biographen Kreißle von Hellborn, dass die Flötenvariationen für Ferdinand Bogner komponiert worden seien. Dieser Name führt in den Kreis um die Schwestern Fröhlich, eine der regsten „Schubertzellen“ im damaligen Wien.
Ferdinand Bogner wirkte als Kanzlist an der k. k. Hofkammer und seit 1821 im Nebenberuf als Flötenprofessor am Wiener Konservatorium, wo auch seine zukünftige Schwägerin Anna Fröhlich Klavier und Gesang unterrichtete. Die stadtbekannte Pianistin war die älteste und musikalischste der vier Schwestern Fröhlich. Als Klavierschülerin von Johann Nepomuk Hummel war sie eine Virtuosin, die selbst Schuberts Erlkönig und andere schwere Lieder nicht scheute. 1819 wurde sie Professorin am Konservatorium des Wiener Musikvereins, wo sie 35 Jahre lang wirkte und viele bedeutende Schubertsängerinnen ausbildete. Sie selbst sorgte immer wieder für Aufführungen seiner Werke wie etwa im Falle des Ständchens für Altsolo, Männerchor und Klavier („Zögernd, leise“). Den Text zu diesem Stück verfasste bekanntlich Franz Grillparzer, dessen „ewige Verlobte“ Annas jüngere Schwester Katharina war. Die zweitälteste Schwester Barbara („Betty“) heiratete 1825 den Flötisten Bogner. Sie war zwar eine hoch begabte Mezzosopranistin, die 1816 eine Opernkarriere begann, entschied sich dann aber für das Malen und Zeichnen als Beruf. So liegt es nahe, als Klavierpartnerin ihres zukünftigen Mannes Bogner in Schuberts Variationen nicht sie selbst anzunehmen, sondern ihre Schwester Anna.
Man kann sich leicht vorstellen, wie Schubert seine brandneuen „Müller-Lieder“ im Dezember 1823 bei Anna Fröhlich vorstellte. Ihr zukünftiger Schwager fand offenbar am drittletzten Lied mit der traurigen e-Moll-Melodie besonderes Gefallen, so dass Schubert genau dieses Lied auswählte, um seine Variationen für Bogner zu schreiben. Diese meldete nachträglich Änderungswünsche an: Nach der besonders brillanten Klaviervariation Nr. 4 wollte Bogner offenbar in einer zusätzlichen Variation besonders glänzen. Deshalb fügte Schubert nachträglich die fünfte Variation ein. Ihr gefürchtetes Flötensolo war freilich in der Erstfassung unspielbar, so dass Schubert die Flötenstimme vollständig umschreiben musste, damit Bogner sie überhaupt spielen konnte.
Den elf Jahre älteren Flötisten kannte er aus dem Dopplerschen „Musikverein“, einem Wiener Orchester, das schon 1818 seine Sinfonien und Messen aufgeführt hatte, mit Bogner an der ersten Flöte. In den Abendunterhaltungen des Wiener Musikvereins setzte Bogner regelmäßig Schubert-Lieder aufs Programm. Schuberts Flötenvariationen hat er dort aber offenbar nie gespielt. Als seine Schwägerin Anna Fröhlich am 30. Januar 1829 ein Gedenkkonzert für den verstorbenen Komponisten veranstaltete, wählte er nicht dessen Flötenvariationen aus, sondern die eines gewissen Gabrielsky. Es war der einzige Programmpunkt, der nicht von Schubert stammte. Offenbar hatte Bogner dessen Variationen spielen wollen, sie aber vorsichtshalber ausgetauscht. Vielleicht rührten das Lied und die Variationen auch an zu viele Erinnerungen. In einem von Otto Erich Deutsch publizierten Kommentar aus dem Schubertkreis heißt es zu Bogner lapidar: „lebte schlecht mit seiner Frau, der störrischen Barbara“. Die Variationen aber stammten aus der Zeit seiner Verlobung. 1829 hatte sich das Paar bereits auseinandergelebt.
Wie dem auch sei: Insgesamt kann man die Variationen als intimen Dialog zwischen zwei bedeutenden Wiener Musikern jener Epoche lesen: Anna Fröhlich und Ferdinand Bogner, die Schubertbegeisterte Pianistin und der renommierte Flötist, beide Professoren am Wiener Konservatorium. Entscheidend zum Verständnis des Ganzen ist der Text des Liedes, weil er auch den musikalischen Aufbau des Themas bestimmt. Mit den „trocknen Blumen“ des Titels nimmt der Müller Abschied:
Ihr Blümlein alle,
Die sie mir gab,
Euch soll man legen
Mit mir ins Grab.
Wie seht ihr alle
Mich an so weh,
Als ob ihr wüsstet,
Wie mir gescheh’?
Ihr Blümlein alle,
Wie welk, wie blass?
Ihr Blümlein alle,
Wovon so nass?
Ach, Tränen machen
Nicht maiengrün,
Machen tote Liebe
Nicht wieder blüh’n.
Und Lenz wird kommen,
Und Winter wird geh’n,
Und Blümlein werden
Im Grase steh’n.
Und Blümlein liegen
In meinem Grab,
Die Blümlein alle,
Die sie mir gab.
Und wenn sie wandelt
Am Hügel vorbei
Und denkt im Herzen:
Der meint‘ es treu!
Dann, Blümlein alle,
Heraus, heraus!
Der Mai ist kommen,
Der Winter ist aus.
Im originalen Lied bilden jeweils drei Strophen eine Einheit. Die ersten drei stehen in e-Moll und enden auf einer deutlichen Frage, ebenso die nächsten drei. Danach setzt in freudigem E-Dur die Vision der letzten beiden Strophen ein: Wenn die Geliebte dereinst zum Grab kommen wird und an die Treue des Verstorbenen denkt, dann werden die trocknen Blumen plötzlich neu aufblühen. Die ekstatische Schlusswendung „Der Mai ist kommen, der Winter ist aus“ enthält im Lied ein hohes gis für den Tenor, auf der Flöte ein ebenso prominentes, dreigestrichenes gis. Fast alle Variationen spielen mit diesem ekstatischen Schluss, ebenso mit der fragenden Fermate am Ende des Moll-Teils und mit dem Umschlag nach Dur. Zwischen die Bravourvariationen sind vier rudimentäre Sätze einer Sonate eingefügt: Variation 2 als Allegro, Variation 3 als Andante, Variation 6 und 7 als Scherzo und Finale.
Die langsame Introduktion beginnt leise im Klavier mit Schuberts so genanntem „Todesrhythmus“, wie man ihn aus berühmten Liedern kennt (Der Tod und das Mädchen oder Der Wanderer). Darüber stimmt die Flöte lange, traurige Töne in tiefer Lage an, die sich rasch zu großer Emphase steigern. Ein Achtelmotiv wird kontrapunktisch durch die Stimmen geführt, mit Gegenbewegung im Klavierbass. Unversehens kehren die rührenden Wendungen der ersten Takte wieder, bevor die Einleitung in tragischem Pianissimo ausklingt. Ihre 37 Takte gehören zum Besten in Schuberts gesamter Kammermusik.
Das Thema wird zunächst vom Klavier angestimmt, die Flöte wiederholt jeden der beiden Moll-Teile in hoher Lage. Beide bringen Verzierungen an, wie sie die Sänger zu Schuberts Zeit in seinen Liedern noch ganz selbstverständlich sangen. Der Moll-Teil mündet in die erwähnte Fermate mit dem „fragenden“ Halbschluss. Darauf folgt der Umschlag ins freudige E-Dur.
In der ersten Variation darf die Flöte in weichen Legato-Läufen sanft brillieren. Es folgt die von den Pianisten gefürchtete zweite Variation mit ihren Oktavgängen in der linken Hand und dem fast symphonisch gesteigerten Thema in der rechten. Nach soviel Pathos bringt die dritte Variation ein lyrisches Intermezzo in Form eines selig singenden Impromptu in E-Dur.
Als Bravourvariation fürs Klavier besteht die Nr. 4 aus lauter rauschenden Akkordbrechungen der rechten Hand über dem Thema im Bass. Der hohe Flötenschluss dieser Variation bereitet den Boden für die berühmte fünfte Variation mit ihren Bravourkunststücken der Flöte. Auf der Mehrklappenflöte des 19. Jahrhunderts waren sie noch schwerer zu realisieren als auf der modernen Böhmflöte. Musikalisch anspruchsvoller ist dann wieder die sechste Variation, ein gespenstisches Scherzo in cis-Moll, fast durchweg Pianissimo gehalten und kontrapunktisch auf die Stimmen verteilt. Am Ende öffnet sich diese Variation zum Finale hin, denn die siebte Variation ist zum Allegro-Finale ausgebaut, ein opernhafter Marsch, der gleich in E-Dur einsetzt und von rasenden Läufen in beiden Instrumenten gekrönt wird.