Quartett Nr. 15 G-Dur für zwei Violinen, Viola und Violoncello, D 887
Werkverzeichnisnummer: 1727
1. Allegro molto moderato
2. Andante un poco moto
3. Scherzo. Allegro vivace -Trio. Allegretto
4. Allegro assai
Das G-Dur-Quartett, D 887, aus dem Sommer 1826 ist die Summe aus allen Klang- und Formexperimenten, die Franz Schubert ab 1824 in seinen großen, sogenannten „späten“ Werken niedergelegt hatte. Es ist eine radikale, trostlose Auseinandersetzung mit dem Thema Dur und Moll, Leben und Tod, Mensch und Gott.
Der Kopfsatz beginnt mit dem Symbol dieses Gegensatzes: dem Dur-Moll-Wechsel. Vom ausgehaltenen G-Dur-Dreiklang wechseln die Streicher urplötzlich ins dreinfahrende g-Moll eines gezackten Motivs: eine vollendete Umsetzung totaler Desillusionierung in Musik. „Denke dir einen Menschen, sage ich, dessen glänzendste Hoffnungen zu Nichte geworden sind, dem das Glück der Liebe u. Freundschaft nichts bieten als höchstens Schmerz.“ Diese briefliche Äußerung Schuberts aus jener Zeit mag den emotionalen Grund des G-Dur-Quartetts bezeichnen, ebenso die Lieder der „Winterreise“, deren erstes Dutzend dem Streichquartett vom Juni 1826 im Abstand weniger Monate folgte. Der Einstieg ist programmatisch für das ganze Werk, denn bis ins Thema des Finales hinein wechseln Dur und Moll einander beständig ab, als ein mal gespenstisches, mal tief erschütterndes Vexierspiel. Wie um das Mottoartige des Beginns zu unterstreichen, hat ihn Schubert im Moment der Reprise des Kopfsatzes diametral verwandelt: Nun führt der ausgehaltene Akkord von Moll nach Dur und mündet nicht in wild-gezacktes Forte, sondern in einen leisen Pizzicato-Akkord, gefolgt von matt zusammensinkenden Gesten.
An den erschreckenden, von Pausen durchsetzten Einstieg des Quartetts schließt sich ein Thema an, das man nur ein Gebet nennen kann: Über chromatisch absteigendem Tremolo der Unterstimmen erhebt die Geige flehentlich ihre Stimme zum Herrn; das Cello antwortet. Das Thema erinnert an die späten Messen Schuberts, nimmt auch bereits Bruckner vorweg. Man kann mit ihm Schuberts eigenes „Gebet“, ein in sein Tagebuch eingetragenes Gedicht, assoziieren:
„Tiefer Sehnsucht heilges Bangen
Will in schönre Welten langen.
Möchte füllen dunklen Raum
Mit allmächtgem Liebestraum.“
An den „Liebestraum“ dieses Themas schließt sich die Wiederaufnahme des Anfangs an, quasi als Doppelchor zwischen Ober- und Unterstimmen. Nach wild zerfahrener Steigerung bringt das Seitenthema einen neuen Ton ins Spiel: Es ist eine zaghafte, synkopisch schwankende Ländlermelodie, die sogleich in Variationen ausgeführt wird. Hier schwingt sich die erste Geige in jene hohen Tremoloregionen auf, die Schuberts G-Dur-Quartett zu einer gefürchteten Tour de force für den Primarius machen.
Als vierte thematische Ebene drängt sich zwischen die Variationen des Ländlers wild aufschäumendes Tremolo, ein Verzweiflungsausbruch, der am Ende der Exposition in wildes Unisono-Tremolo mündet. Aus diesem löst sich zu Beginn der Durchführung ein chromatisch bis in den Abgrund hinabsteigendes Tremolo des Cellos. Ihm antwortet das Gebet vom Anfang des Satzes – eine besonders plastische Umsetzung von Todesfurcht und Erlösungstraum. Danach wird das Mottomotiv mit seinen gezakcten punktierten Rhythmen in zwei erschütternden Steigerungen bs zu einem Höhepunkt geführt, an dem die Spannungs stagniert – auf dem drei gestrichenen A der Violine – und dann in sich zusammensackt, um in die geschilderte Variante des Beginns zu münden. In der Coda kehrt der chromatische Bassabstieg aus dem Mittelteil noch einmal wieder. Bis in die letzten Takte hinein kämpfen die Musiker um den Vorrang von Dur oder Moll. Dur behält vorläufig das letzte Wort.
Der langsame Satz dieses Quartetts zitiert zwar nicht ein Schubertlied wie im d-Moll-Quartett „Der Tod und das Mädchen“ und auch kein liedartiges Orchesterthema wie das Andante des „Rosamunde“-Quartetts. Doch auch hier wirkt der melancholische e-Moll-Gesang, den das Cello in hoher Lage anstimmt, wie Liedmelodie. Die erstarrten Schritte des Wanderers im Schnee aus der „Winterreise“ sind hier nicht mehr fern. Wie dort gesellen sich zu dem zweimal in freien Variationen ausgeführten Lied zerfahrene Kontrastteile, die vom Schmerz des Lebens erzählen. „Meine Erzeugnisse sind durch den Verstand für Musik und durch meinen Schmerz vorhanden; jene, welche der Schmerz allein erzeugt hat, scheinen am wenigsten die Welt zu erfreuen,“ notierte Schubert in der gleichen Zeit.
Ins ferne h-Moll führt das Scherzo, ein Gespensterstück aus scharfen, kleinen Tremolomotiven. Ein Ländler in G-Dur, in traumhaft unwirklichen Klang gehüllt, bildet das Trio.
Das Thema des Finales ist ein ständiges Vexierspiel der Harmonien und melodischen Richtungen im wilden Galopp des Sechsachteltaktes. Auf einen gehetzt herabstürzenden g-Moll-Dreiklang antwortet der aufsteigende G-Dur-Dreiklang. Quasi von Takt zu Takt wechseln Tongeschlecht und melodische Richtung. Beherrschendes Thema ist die Triole, die mal im Staccato, mal mit kurzen Vorschlägen verziert, mal in raumgreifendem Legato und Unisono erscheint. Das Seitenthema ist ein scheinbar heiteres Spiel mit Mozartischen Zweierbindungen. Vor dem dritten Thema jedoch hakt sich die Bewegung auf einer langen, zwischen Dur und Moll changierenden Dissonanz fest, die sich endlich in Dur auflöst. Am Ende des Satzes hat Schubert diesen Moment bis ins schier Unendliche gedehnt. Das hektische Treiben der Durchführung wird von einer resignativen e-Moll-Phrase unterbrochen – der einzige Ruhepunkt in einem atemlosen Satz, der am Ende in nur scheinbar strahlendem G-Dur ausklingt.
Schubert selbst bekam im Konzertsaal nur den ersten Satz dieses Werkes zu hören – allein dieser ist so lang wie ein komplettes Quartett seiner Komponistenkollegen. Schuppanzigh spielte ihn im März 1828 in Schuberts „Privatkonzert“, dem einzigen reinen Schubert-Programm, das der Komponist im Wiener Musikverein durchsetzen konnte. Bei den Verlegern stießen dieser Satz wie die übrigen drei auf totale Ablehnung. In die posthume Veröffentlichung von Schuberts Kammermusik, die bald nach seinem Tod einsetzte, wurde dieses monumentale, technisch wie musikalisch jegliche Grenzen sprengende Quartett nicht einbezogen. Erst 1850 wurde es in Wien öffentlich aufgeführt, erst 1851 von den Nachfolgern des Verlegers Diabelli gedruckt. Es dauerte bis in die 1870er Jahre, also bis in die Brahms-Zeit hinein, bevor man begann, dieses Werk zu schätzen und häufiger zu spielen.