"Gretchen am Spinnrad", D 118 | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Franz Schubert

"Gretchen am Spinnrad", D 118

„Gretchen am Spinnrad“, D118, aus Faust I, op. 2

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 1712

Satzbezeichnungen

Meine Ruh ist hin, mein Herz ist schwer. Nicht zu geschwind

Erläuterungen

Drei Frauengestalten Goethes – Klärchen, Mignon und Gretchen – nahm sich der junge Franz Schubert zum Vorbild für drei seiner schönsten Lieder. Die Gestalten und ihre Situationen brauchen kaum vorgestellt zu werden – sie haben Volkstümlichkeit erlangt. Die Lieder jedoch werfen Licht in eine der entscheidenden Entwicklungsphasen des Komponisten und des Kunstliedes überhaupt. Mit dem 19. Oktober 1814 nämlich, dem Tag, an dem „Gretchen am Spinnrade“ entstand, beginnt für Musikhistoriker gemeinhin die Romantik. Erstmals gelang es hier dem 17jährigen Schubert, den Schwebezustand zwischen Sehnsucht und Verzweiflung, die Unruhe des romantischen Herzens in eine archetypische Form zu bringen. Auch die anderen beiden Gesänge entstanden in dieser Zeit, im Juni und Oktober 1815, und auch sie sind Zeugnisse des „Himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt“, wie sich Klärchen im „Egmont“ ausdrückt.
Bis Ende 1815 schrieb Schubert in einem Sturm der Begeisterung 34 solcher Goethe-Gesänge. Sein Versuch jedoch, sich die Vertonungen vom Dichter sanktionieren zu lassen, schlug fehl: eine Sammlung von 16 Liedern, die Schubert im April 1816 an Goethe übersandte, blieb unbeantwortet. Die Mißachtung des Dichterfürsten konnte den Gesängen freilich ihren „authentischen“, erlebten Ton nicht nehmen.

Mit Franz Schubert beginnt die Geschichte der Goethe-Rezeption im deutschen Lied. Historisch gesehen, ist diese Behauptung natürlich falsch – Goethe wurde schon viel früher und in ganz anderen Kulturkreisen vertont als im Wien der nach-napoleonischen Ära. Doch es war Franz Schubert, der als erster junger Liedkomponist des 19. Jahrhunderts seine ganze Hoffnung und sein höchstes Ideal an Goethe klammerte – vergeblich, wie wir wissen. Auf die Übersendung eines Goethe-Liederheftes im April 1816 reagierte der Dichterfürst im fernen Weimar ebensowenig wie auf die Bekanntheit späterer Goethe-Lieder Schuberts, etwa des Erlkönig. Ein zweites GoetheLiederheft stellte Schubert zwar noch zusammen, ließ es aber angesichts des eisigen Schweigens des Meisters zuhause liegen. Seiner Begeisterung für die Lyrik des Klassikers tat dieser Rückschlag keinen Abbruch.

Das Gretchen aus dem Faust und Mignon, das geheimnisvolle Kindwesen aus Goethes Wilhelm Meister, stellte Schubert schon in den beiden frühen Goethe-Heften in den Mittelpunkt. Im ersten war Gretchen am Spinnrade enthalten, das vielen heute als der Beginn der Romantik in der Musik überhaupt gilt; im zweiten Schuberts Vertonung von Kennst du das Land, D 321.

Beiden Frauengestalten blieb der Komponist auch späterhin treu, bis zu seiner im Januar 1826 geschriebenen letzten Vertonung der drei Mignonlieder Heiß mich nicht reden, So laßt mich scheinen und Nur wer die Sehnsucht kennt. Die Nähe zur Winterreise aus dem folgenden Jahr ist in diesen späten Gesängen bereits zu spüren und die großartige Entwicklung, die Schubert in nur 10 Jahren als Liederkomponist genommen hatte, offensichtlich. Über die Umsetzung der Texte sich im Detail zu verbreiten, ist deshalb nicht nötig. Von der Kreisbewegung der Klavierbegleitung in Gretchen am Spinnrade bis hin zum „Todesrhythmus“ Schuberts in Heiß mich nicht reden aus D 877 handelt es sich um klassische „Formulierungen“ deutscher Liedkunst.