“Der Taucher”, D 77
Werkverzeichnisnummer: 1704
Wer wagt es, Rittersmann oder Knapp
1996
Franz Schubert: Die Bürgschaft und Der Taucher
Die Balladen Franz Schuberts spiegeln die zwei Pole seines mythischen Weltbildes wider: zum einen die klassische Antike, in der die Handlung von Schillers berühmter Ballade Die Bürgschaft spielt, zum anderen die nordischen Sagen, die Schubert als begeisterter Walter Scott-Leser bis kurz vor seinem Tod begierig in sich aufsog und die die Kulisse für Schillers Der Taucher bildet.
Schuberts Vorliebe für die Antike läßt sich auf das heroische Milieu des Wiens der Befreiungskriege, auf Männer wie Friedrich Schlegel und Theodor Körner zurückführen, seine Vorliebe für die düstere Sagenwelt des Nordens war ebenfalls ein Trend der Zeit. Vertrautheit mit der antiken Literatur kann angesichts des jahrelangen Latein- und Griechisch-Unterrichts am K. K. Stadtkonvikt vorausgesetzt werden, wie u. a. Zitate von Cäsar und Cicero in Schuberts Briefen beweisen; das Nordische rezipierte er nur in Übersetzungen. 1817 begann eine Phase intensiver Beschäftigung mit klassischen Themen im Lied, die die frühere Vorliebe für Sagen des hohen Nordens verdrängte und bis 1820 anhielt. Der Taucher, komponiert 1813/14, einerseits, Die Bürgschaft aus dem Jahre 1815 andererseits zeigen diesen Übergang an. Sie gehören zu einer Gruppe von Schillerballaden aus den Jahren 1814/16 (darunter auch z. B. Klage der Ceres, Ritter Toggenburg), für deren Aufbau die Opera seria mit Rezitativ, Arioso und Cavatina prägend war.
“Vieles von dieser Musik ist hervorragend, aber sie behandelt ihre mythologischen Gestalten wie Theaterfiguren, die von einem gut gesponnenen Seemannsgarn wie Puppen manipuliert werden. Das ist vielleicht zum Teil die Schuld von Schiller, doch auch der Komponist hatte noch nicht die geistige Verbindung zwischen Hellas und dem anbrechenden Zeitalter der Romantik entdeckt; er hatte die Bedeutung der griechischen Zivilisation für sein eigenes Leben und sein Bewußtsein noch nicht gefühlt.” (G. Johnson) Dennoch finden sich in den beiden Schiller-Balladen auch persönlichere Züge des Liedmeisters Schubert wieder. Von dem fehlgeschlagenen Mordanschlag auf den Tyrannen Dionysius von Syrakus zu Beginn der Bürgschaft spannt sich ein Bogen unerhörter Steigerungsmomente und romantischer Umschwünge bis zur wundersamen Wandlung des grausamen Fürsten zum Menschen am Ende. Das unerbittlich Verhängnisvolle des Tauchers steht dazu in “nordischem” Kontrast, wobei das Tauchen in die Tiefen des Meeres in Schuberts unerhörter Vertonung eben auch eine Reise in die Tiefen des Mythos ist.