"Verklärte Nacht", Streichsextett, op. 4 | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Arnold Schönberg

"Verklärte Nacht", Streichsextett, op. 4

Sextett für zwei Violinen, zwei Violen und zwei Violoncelli, op. 4, „Verklärte Nacht“ nach einem Gedicht von Richard Dehmel in einem Satz

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 1678

Satzbezeichnungen

Sehr langsam Breiter
Schwer betont
Sehr breit und langsam
Sehr ruhig

Erläuterungen

1899 komponiert, war das Streichsextett „Verklärte Nacht“ von Arnold Schönberg gewissermaßen schon chronologisch ein vollendetes Schlusswort zum 19. Jahrhundert und eine prophetische Vorahnung des neuen Säkulums. Dies löste bei der Uraufführung 1902 in Wien heftigste Reaktionen aus, wo das Werk – so Schönberg – „ausgezischt wurde und Unruhe und Faustkämpfe verursachte“. Für uns heute zählt die „Verklärte Nacht“ zum Schönsten der gesamten Streicherliteratur, ein berauschendes Stück Jahrhundertwende-Musik, dessen Bindung an den Zeitgeist der Komponist selbst in aller Klarheit erkannte. 1950, mit einem halben Jahrhundert Distanz zu den Ereignissen, verfasste er seine ausführliche Erläuterung des Werkes und seines Programms. Für Schönberg war sein Streichsextett quasi ein kammermusikalischer Beitrag zur Gattung der „Sinfonischen Dichtung“, inspiriert von der Literatur des „Fin de siècle“:

„Am Ende des 19. Jahrhunderts waren Detlev v. Liliencron, Hugo von Hofmannsthal und Richard Dehmel die vordersten Vertreter des Zeitgeistes in der Lyrik. In der Musik hingegen folgten nach dem Tod von Brahms viele junge Komponisten dem Vorbild von Richard Strauss und komponierten Programmusik. Dies erklärt den Ursprung der ‚Verklärten Nacht‘: sie ist Programmusik, die das Gedicht von Richard Dehmel schildert und zum Ausdruck bringt.

Meine Komposition unterschied sich vielleicht etwas von anderen illustrativen Kompositionen erstens, indem sie nicht für Orchester, sondern für Kammerbesetzung ist, und zweitens, weil sie nicht irgendeine Handlung oder ein Drama schildert, sondern sich darauf beschränkt, die Natur zu zeichnen und menschliche Gefühle auszudrücken. Es scheint, dass meine Komposition aufgrund dieser Haltung Qualitäten gewonnen hat, die auch befriedigen, wenn man nicht weiß, was sie schildert, oder, mit anderen Worten, sie bietet die Möglichkeit, als ‚reine‘ Musik geschätzt zu werden. Daher vermag sie einen vielleicht das Gedicht vergessen zu lassen, das mancher heutzutage als ziemlich abstoßend bezeichnen könnte.

Dessenungeachtet verdient vieles von dem Gedicht Anerkennung wegen seiner in höchstem Maße poetischen Darstellung der Gefühlsregungen, die durch die Schönheit der Natur hervorgerufen werden, und wegen seiner bemerkenswerten moralischen Haltung bei der Behandlung eines erschütternd schwierigen Problems.

Bei einem Spaziergang in einem Park in einer klaren, kalten Mondnacht (Anfangsthema) bekennt die Frau dem Mann in einem dramatischen Ausbruch eine Tragödie (Solo der ersten Geige über Tremolo). Sie hatte einen Mann geheiratet, den sie nicht liebte. Sie war unglücklich und einsam in dieser Ehe (Cellothema con sordino), zwang sich aber zur Treue (belebter Abschnitt im Dreivierteltakt), und nachdem sie schließlich dem mütterlichen Instinkt gefolgt ist, trägt sie jetzt ein Kind von einem Mann, den sie nicht liebt. Sie hatte ihre Pflichterfüllung gegenüber den Forderungen der Natur sogar für lobenswert gehalten (etwas ruhigerer Einschub über Bordun der Celli). Ein höhepunktartiger Aufstieg, der das Motiv verarbeitet, drückt aus, wie sie sich selber ihrer großen Sünde bezichtigt. Voller Verzweiflung geht sie nun neben dem Mann her, den sie liebt, und fürchtet, dass sein Urteilsspruch sie vernichten wird.

Aber ‚die Stimme eines Mannes spricht‘, eines Mannes, dessen Großmut so erhaben ist wie seine Liebe. Die vorausgegangene erste Hälfte der Komposition endet auf es-Moll, von dem als Überleitung nur b im Cello liegenbleibt, um mit dem äußersten Gegensatz D-Dur zu verbinden. Flageoletts, die mit gedämpften Läufen ausgeziert sind, drücken die Schönheit des Mondlichts aus, und über einer flimmernden Begleitung wird ein Nebenthema eingeführt, das bald in ein Duett zwischen Violine und Cello übergeht. Dieser Abschnitt gibt die Stimmung eines Mannes wieder, dessen Liebe im Einklang mit dem Schimmer und Glanz der Natur fähig ist, die tragische Situation zu leugnen: ‚Das Kind, das Du empfangen hast, sei Deiner Seele keine Last.‘

Nachdem das Duett einen Höhepunkt erreicht hat, wird es durch eine Überleitung mit einem neuen Thema verbunden. Seiner Melodie, die die ‚Wärme‘ ausdrückt, die ‚flimmert von Dir in mich, von mir in Dich‘, die Wärme der Liebe, folgen Wiederholungen und Verarbeitungen früherer Themen. Schließlich führt es zu einem weiteren neuen Thema, das dem würdigen Entschluss des Mannes entspricht: die Wärme ‚wird das fremde Kind verklären, Du wirst es mir, von mir gebären‘. Ein Aufstieg führt zum Höhepunkt, zu einer Wiederholung des Themas des Mannes. Ein langer Coda-Abschnitt beschließt das Werk. Sein Material besteht aus Themen der vorausgehenden Teile. Alle sind von neuem verändert, wie um die Wunder der Natur zu verherrlichen, die diese Nacht der Tragödie in eine verklärte Nacht verwandelt haben.“