„Tzigane „, Konzertfantasie für Violine und Orchester
Werkverzeichnisnummer: 1536
Moderato
MAURICE RAVEL fasste sein ästhetisches Ideal einmal in den knappen Worten „absolut einfach, nichts als Mozart“ zusammen. Zu seiner Konzertfantasie Tzigane wurde er durch das Spiel der ungarischen Geigerin Jelly d’Aranyi angeregt. Sie spielte ihm 1922 bei einer Soirée in Paris Zigeunermusik vor, von der Ravel gar nicht genug bekommen konnte. „Bis um 5 Uhr morgens erklangen die Zigeunerweisen, jedermann war erschöpft außer der Geigerin und dem Komponisten. Dieser Abend gab den Anstoß zur Tzigane.“ (A. Orenstein).
In seiner Zigeunerfantasie nimmt Ravel die Geduld der Hörer zwar nur für zehn Minuten in Anspruch, die Virtuosität des Solisten aber bis an die Grenzen des physisch Möglichen. Den Eindruck von Zigeunermusik verstärkte er noch dadurch, dass er zur Klavierbegleitung ein Luthéal vorsah, ein heute vergessenes Pedal, das den Klavierklang nach dem Vorbild eines Zymbals verfremdet. Die Uraufführung 1924 in London erfolgte allerdings in der Fassung mit normalem Klavier.
Das Mädchen aus Arles
Das Jahr 1875, in dem Bizets „Carmen“ ihre umstrittene Uraufführung erlebte, bildet das Scharnier unseres Programms. Denn am 7. März jenes Jahres, vier Tage nach der Pariser „Carmen“-Premiere, erblickte in dem Pyrenäen-Ort Ciboure unweit der spanischen Grenze ein Kind das Licht der Welt, das zwei Jahrzehnte später als junger Komponist Bizets Spanienthema aufgreifen und zur Apotheose führen sollte: Maurice Ravel. Dass Bizet den Uraufführungsmisserfolg seines Meisterwerks nur um drei Monate überlebte, hat das Schicksal durch Ravel gewissermaßen rückgängig gemacht. Der spanische Ton in der französischen Musik, die gefährlich-zerstörerische Sinnlichkeit des Südens, wie sie in „Carmen“ auf der Opernbühne unsterblich wurde, hat Ravel in die Konzertsäle der französischen Metropole und später der ganzen Welt getragen.
Bekanntlich ist Bizet zu früh gestorben, um den Weltruhm seiner „Carmen“, aber auch den einer anderen mediterranen Schönheit aus seiner Feder erleben zu können: der „Arlésienne“. Sie ist gewissermaßen das züchtige, südfranzösische Gegenstück zur Zigeunerin aus den Zigarettenfabriken Sevillas. Das Mädchen aus Arles steht im Zentrum eines Bühnenstücks von Alphonse Daudet, einer Tragödie, die unter provenzalischen Bauern spielt und sich in schlichten, starken Leidenschaften versuchte. Zweieinhalb Jahre vor „Carmen“ ging das Stück über die Bretter des Pariser Thêatre du Vaudeville. Bizets Bühnenmusik fand beim Publikum sofort Anklang und ließ durch ihre ungewöhnliche Instrumentierung aufhorchen: Zu einem Holzbläsersextett, zwei Hörnern und kleinem Streichorchester kamen Es-Saxophon und provenzalisches Tambourin hinzu. Die „Couleur locale“ des strahlenden französischen „Midi“ hatte der geborene Pariser Bizet auf wundervolle Weise eingefangen, obwohl er die Provence selten genug mit eigenen Augen gesehen hatte (auf der Hinreise nach Rom 1857, wo er als glänzender Absolvent des Pariser Conservatoire das Romstipendium in der Villa Medici antrat). Freilich hatte sich Bizet mit Sammlungen originaler provenzalischer Melodien vertraut gemacht, unter anderem mit der Anthologie „Lou Tambourin“ des Tambourinspielers François Vidal, die erst acht Jahre zuvor erschienen war. In Vielem war Bizets Musik für die Pariser also völlig neu: Im Rückgriff auf jene damals noch relativ wenig erforschten Gesänge des Südens, in der Verwendung des brandneuen Saxophons, dessen klagende Stimme sich an verschiedenen Stellen der Schauspielmusik eindringlich erhebt, und in der klaren Zuordnung musikalischer Motive zu den handelnden Figuren, unter denen Innocent und Frédéri die Hauptpersonen sind.
Schon einer der Kritiken nach der Uraufführung der „Arlésienne“ konnte Bizet den Rat entnehmen, seine Musik zu einer Konzertsuite umzuarbeiten, um sie vor dem absehbaren baldigen Ende des Bühnenstücks zu bewahren. Tatsächlich wählte er aus den 27 Nummern seiner Schauspielmusik – darunter 16 Melodramen und sechs Chöre – vier längere Teile aus, orchestrierte sie für Orchester neu und stellte sie schon zwei Monate später dem ebenfalls begeisterten Pariser Konzertpublikum vor. Diese erste Arlésienne-Suite ist die einzige von Bizet selbst zusammengestellte. Die Nr. 2 hat sein Freund Guiraud 1880 posthum arrangiert.
Das Prélude der Suite entspricht der Ouvertüre der Schauspielmusik und ist dreiteilig. Es hebt mit dem „Marcho dei Rei“ an, einem traditionellen provenzalischen Marschthema (Marsch der Könige), das zunächst im Unisono majestätisch vorgestellt, dann in vier Variationen ausgeführt wird. Im klagenden Klang des Saxophons erhebt sich danach das Thema des Innocent. Das Prélude schließt mit dem Thema der tragischen Liebe des Helden Frédéri in den Geigen.
Auch im Menuett, dem originalen Zwischenakt zwischen 3. und 4. Aufzug, hat Bizet provenzalische Themen zitiert und in ein quirlig-tänzerisches Scherzo verwandelt. Darauf folgt eine seiner schönsten Eingebungen, das Adagietto. Im Schauspiel begleitet es die bewegende Aussprache zwischen dem Schäfer Balthazar und der Alten Renaude, deren heimliche Liebe zueinander erst jetzt, nach einem Leben der Trennung und Entbehrungen, zum Vorschein kommt. Bizet hat das Überwältigende dieses späten Liebesgeständnisses in 34 Takten süßester F-Dur-Musik für die gedämpften Streicher eingefangen. Das „Carillon“ des Finales, ein provenzalisches Glockenspiel, begleitet im Drama ein Fest im Hof von Castelet. Ein Ostinato von Horn und Harfe über drei Töne (gis-e-fis) symbolisiert den Glockenschlag und begleitet 56 Takte lang unausgesetzt das ausgelassene Treiben. Erst im Trio wird der Glockenschlag vom pastoralen Gesang zweier Flöten abgelöst. Die Reprise führt zum triumphalen Schluss der Suite.
Zigeunerfantasie
Kein zweiter Komponist – Johannes Brahms vielleicht ausgenommen – konnte sich so hemmungslos hörend der Zigeunermusik hingeben wie Maurice Ravel. 1922 spielte ihm die ungarische Geigerin Jelly d’Aranyi bei einer Soirée in Paris Zigeunermusik vor, von der Ravel gar nicht genug bekommen konnte: „Bis um 5 Uhr morgens erklangen die Zigeunerweisen, jedermann war erschöpft außer der Geigerin und dem Komponisten. Dieser Abend gab den Anstoß zur Tzigane.“ (A. Orenstein).
Die Konzertfantasie Tzigane, auf die hier angespielt wird, entstand 1924 als unverblümte Huldigung an die ungarisch-rumänischen Zigeuner, deren Tradition in d’Aranyis Spiel fortlebte. In nur zehn Minuten Spieldauer hat Ravel die Virtuosität der Solistin – seiner damaligen wie unserer heutigen – bis an die Grenzen des physisch Möglichen ausgereizt. In der Urfassung für Geige und Klavier verstärkte er den Eindruck von Zigeunermusik noch dadurch, dass er zur Klavierbegleitung ein Luthéal vorsah, ein heute vergessenes Pedal, das den Klavierklang nach dem Vorbild eines Zymbals verfremdet. In der orchestrierten Fassung ahmte er diese Zymbalklänge mittels instrumentatorischer Effekte nach. Insgesamt bleibt der Klang des Orchesters äußerst transparent, um die vielfältigen virtuosen Klippen der Geigenstimme ganz in den Vordergrund zu stellen: die Flageoletts und Pizzicati, die Doppelgriffe und Passagen. Mit einer Solokadenz ohne jede Begleitung hebt die Fantasie an. Schon hier gibt sich die Geige mal sentimental-schwelgend und zart, mal gefährlich agressiv – ganz im Sinne der Devise Carmens: „L’amour est une Bohémienne“ – „Die Liebe ist eine Zigeunerin.“ Die Harfe gesellt sich als erstes Orchesterinstrument zur Geige. Allmählich wird das tänzerische erste Thema, eine Art vorweggenommener Bartók-Weise, eingeführt. Ein triumphaleres zweites Thema folgt und wird mit dem ersten, den Solpassagen und Motiven aus der Einleitung zu einem freien, rhapsodischen Ablauf zusammengefügt.
Morgenständchen des Narren
Bei dem spanischsten aller Ravelschen Orchesterstücke handelt es sich – wie sie oft bei ihm – um die nachträgliche Orchestrierung eines Klavierstücks. „Alborada del Gracioso“ war ursprünglich das vierte Stück aus dem Klavierzyklus „Miroirs“ von 1905. Erst 13 Jahre später hat es Ravel orchestriert und 1919 zur Uraufführung in Paris freigegeben. Er schuf damit seine schillerndste spanische Partitur, ein vor orchestraler Farbenpracht und rhythmisch-perkussivem Rausch geradezu strotzendes Klanggemälde. Crotales, Castagnetten, Harfen und Xylophon lassen an den Reichtum der Lauten, Harfen und des Schlagwerks in der alten Musik Spaniens denken. Hier dienen sie zur Untermalung eines grausam-grotesken Ständchens, das ein Hofnarr vor dem Fenster seiner angebeteten Prinzessin singt, die ihn aber nur verlacht. Im Titel hat Ravel die „Alborada“, das Morgenständchen der Troubadoure, mit dem „Gracioso“ kombiniert, dem Narren im spanischen Drama des 17. Jahrhunderts, wie er bei Calderòn und Lope de Vega vorkommt. In den Außenteilen steigert sich die rhythmische Energie des Ständchens ins Alptraumhafte, der Mittelteil wird von einem klagenden Fagottsolo eingeleitet, das unseren Blick zum Fenster der Schönen lenkt. Ravel zeigt hier „ein Spanien zuckend und exzessiv; ein Spanien überschüttet vom Lärm, von Farben und Zornesausbrüchen in den beiden Außenteilen, wo die Instrumente, buchstäblich elektrisiert, um die Wette rattern in einem bacchantischen Tanz; ein Spanien von gefährlicher Sinnlichkeit im Mittelteil, der in gnadenlosem Licht die Grausamkeit der Schönen beschreibt, die sich über die lächerliche Serenade des bemitleidenswerten Narren lustig macht.“ (François-René Tranchefort)
Pavane
„Pavane für eine entschlafene Infantin“ nannte der junge Maurice Ravel ein 1899 komponiertes kleines Klavierstück, das nach der Uraufführung der Orchesterfassung 1911 rasch zu einem seiner populärsten Werke avancieren sollte. Den eigenartigen Titel hatte er aus zwei Gründen gewählt: Er schrieb die Pavane für die Prinzessin Edmonde de Polignac, für die ein aristokratischer Bezug wohl angemessen schien, und er hatte Spaß an der Alliteration bzw. Asonanz, die sich aus den französischen Worten „infante“ und „défunte“ ergab. Dennoch hat man den Titel stets programmatisch verstanden – so als habe dem Komponisten das Bild einer entschlafenen, kleinen Prinzessin aus spanischem Königshaus im 17. Jahrhundert vor Augen gestanden. Tatsächlich könnte man die barockisierende Melodielinie als die Nachahmung einer spanischen Pavane jener Epoche deuten – in ihren zarten Vorhalten und ihrer ritterlich gefassten Haltung. Was Ravel betraf, hat er jedoch gar keinen Gedanken an eine Infantin verschwendet. Er selbst hasste später dieses Musikstück und seinen Erfolg: „zu viel Einfluss von Chabrier und eine ziemlich ärmliche Form“ lautete sein vernichtendes Urteil.
Zigeunerweisen
Der einzige wirkliche Spanier in unserem spanischen Programm war von der Welt der Zigeuner in seinem Land ebenso fasziniert wie die Franzosen Bizet und Ravel. Pablo de Sarasate gilt als der Inbegriff des mediterranen Geigenvirtuosen im späten 19. Jahrhundert. Der Sohn eines Militärkapellmeisters studierte in Paris und war schon mit 13 ein fertiger Solist. Zeitlebens strahlte er eine gewisse Strenge des Stils aus und verwahrte sich etwa gegen die damals aufkommende Mode, einen celloähnlichen Ton auf der G-Saite zu produzieren. Auch der englische Dichter George Bernard Shaw, der in den 1890er Jahren in London oft die Gelegenheit hatte, Sarasate zu hören, zeichnete in seinen gefürchteten Musikkritiken das Bild eines klassischen Künstlers: „Was Makellosigkeit anbelangt, ist Sarasate unvergleichlich, ebenso was die akademischen Qualitäten seines Spiels betrifft, besonders jene unendlich lange, vollkommene Note, die er mit einem einzigen delikaten Bogenstrich hervorzubringen weiß. Auch zeigt er sich in seiner stillen und sicheren Beherrschung jeder Art von Passagen als perfekt trainierter Spieler … Sarasate besteht nie auf seinen außerordentlichen Fähigkeiten, er behandelt sie wie eine Selbstverständlichkeit – als Teil der notwendigen Ausstattung eines erstklassigen Arbeiters, als etwas, das nur zählt im klingenden Ergebnis.“
Manchmal freilich erlebte auch Shaw Momente, in denen das spanische Temperament mit dem Virtuosen durchging: „Sarasate ließ bei seinem ersten Konzert Samstag abend alle Kritik hinter sich. Er ließ auch den Klavierbegleiter um etwa einen halben Takt hinter sich, woraus unvorhergesehene Synkopeneffekte resultierten, die mehr kurios als erfreulich waren.“ Sicher waren es seine berühmten „Zigeunerweisen“, die Sarasate damals zum Eilen veranlassten, denn genügend Stoff für virtuoses Davonpreschen hätten sie geboten. Um 1880 komponiert, frönte Sarasate in dieser Fantasie seiner Vorliebe für spanische Tänze und Zigeunerweisen. Ebenso instinktiv wie Bizet erfasste er den authentischen Reiz dieser Musik, die er in ein Feuerwerk aus inspirierten Passagen und lang ausgesponnenen Melodiebögen verwandelte. Wiederum war es Shaw, der diese Art von Konzertfantasie gegen die Anhänger „seriöser“ Sonaten und Konzerte verteidigte: „Sucht man nach dem Unterschied zwischen den Bruch-Violinkonzerten und den Fantasien, die Sarasate so bewundernswert spielt, und vergleicht man die pure Qualität der Musik, so wird man zu dem Ergebnis kommen, dass man statt der Bruchkonzerte alles spielen könnte – den Karneval von Venedig, ‚Home. sweet home‘ auf der G-Saite oder was immer man will … Komponisten, die kaum Material genug für eine Fantasie haben, dehnen es auf die Länge eines Konzerts aus, bloß damit es auf demselben Bücherregal wie Beethoven oder Mendelssohn zu liegen kommt.“
Bolero
Die berühmteste spanische Musik des 20. Jahrhunderts, Ravels „Bolero“, verdankte wieder einmal der Bühne ihre Entstehung. Als ihn die Tänzerin Ida Rubinstein 1927 für ein spanisches Ballett um die Orchestrierung einiger Klavierstücke von Albeniz bat, entschloss sich Ravel kurzerhand zur Neukomposition. So entstand sein berühmtestes Orchesterstück: der Bolero. Wieder war es der Tanz, der ihn gedanklich nach Spanien lockte, und wieder zog ihn ein bestimmter Rhythmus, der des Bolero, in seinen Bann. Die Absicht des Komponisten war ebenso simpel wie provokativ: „Ich wünsche mir ganz besonders, dass es bezüglich des Themas meines Bolero keinerlei Missverständnisse gibt. Er ist ein Experiment in eine ganz besondere und besonders eingeschränkte Richtung und man sollte ihn nicht verdächtigen, etwas anderes zu beabsichtigen, als er beabsichtigt. Vor der Uraufführung ließ ich ein Vorwort drucken, um deutlich zu machen, dass ich hier ein Stück von 17 Minuten geschrieben hatte, das aus nichts anderem als einer Orchesterfolie ohne Musik besteht – ein langes und sich stets steigerndes Crescendo.“ In Bezug auf das berühmte Hauptthema fragte Ravel einen Freund provokant: „Finden Sie nicht, dass dieses Thema etwas Insistierendes hat? Ich werde versuchen, es einige, nicht gerade wenige Male zu wiederholen ohne jede Entwicklung, nur durch Steigerung der Orchestrierung.“
Bei der Uraufführung in der Pariser Oper im November 1928 kam es denn auch prompt zu wütenden Reaktionen irritierter Zuhörer. Eine Dame rief aus „Au fou!“ („Für den Deppen!“). Ravel meinte nur, sie habe offensichtlich verstanden! Nicht nur im Verzicht auf jede thematische Entwicklung ist der Bolero „primitiv“. Auch die Unnachgiebigkeit, mit der die kleine Trommel den Rhythmus beherrscht, indem sie ihn zu Beginn als „Vorhang“ vorgibt, trägt zum Eindruck des primitib Orgiastischen bei. Die Boleromelodie der Flöte ist zwar ein reicher, auch die Mollregionen berührender Bogen, doch auch sie kreist immer wieder um die gleichen Wendungen. Nach und nach gesellen sich die übrigen Holzbläser mit zarten Valeurs hinzu, erst sehr viel später die Streicher, die zu Beginn als reine Perkussionsinstrumnte im Hintergrund bleiben. Im späteren Verlauf wird ihre Melodie von geradezu schreienden nachschlagenden Vierteln der Blechbläser überlagert. Als einzige harmonische Überraschung hat Ravel eine kurze Rückung von C- nach E-Dur eingebaut. Der Wiedereintritt der Grundtonart bereitet die gewaltig gesteigerten Schluss vor, die Apotheose des spanischen Tanzes in der Musik.