"Gaspard de la nuit" | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Maurice Ravel

"Gaspard de la nuit"

„Gaspard de la nuit“

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 1529

Satzbezeichnungen

1. Ondine (Undine)

2. Le gibet (Der Galgen)

3. Scarbo (Der Zwerg Scarbo)

Erläuterungen

Maurice Ravel griff im „Gaspard de la Nuit“ auf ein prominentes Werk der Schauerromantik zurück: auf die gleichnamige Sammlung von Aloysius Bertrand aus dem Jahre 1830. Mit dem eigenwilligen Titel „Kaspar der Nacht“ ist eine Art Schatzmeister der nächtlichen Spukgestalten gemeint, der die Geheimnisse des Nächtlichen enthüllt: „Hexerei, unheimliche Seen, Schlösser, Glocken und sonderbare nächtliche Visionen“, wie Ravels Biograph Arbie Orenstein schrieb. Ravel suchte sich aus dem Horrorkabinett des französischen E.T.A.Hoffmann drei Gestalten aus: die Nixe Undine, einen Gehängten am Galgen und den Höllenzwerg Scarbo. Seinen Stücken gab er den Namen „Romantische Dichtungen für Klavier“ und fügte – ähnlich wie etwa Johannes Brahms in seinen Intermezzi – jedem von ihnen die vertonten Verse als Motto hinzu. Freilich ist der Bezug zwischen Tönen und Worten nicht der eines „Liedes ohne Worte“, sondern der einer „Méditation“ oder Klangmalerei im Sinne Franz Liszts.

Liszt ist auch insofern das entscheidende Stichwort, als Ravel hier die höchsten Anforderungen Lisztscher Klavierkunst erreicht, ja in Teilen übertroffen hat und dabei auch Liszts Idee einer „diabolischen“ Virtuosität aufgriff. Berühmt-berüchtigt sind die auf drei Systemen notierten Passagen des Werkes, in denen sich schwarze Noten teuflisch über das gesamte Papier ausbreiten. Durchaus diabolisch war dem Schöpfer dieser Noten zumute, als er die drei Stücke im Jahre 1908 sozusagen in einem Guss zu Papier brachte: „Beim Gaspard ist es mit dem Teufel zugegangen – kein Wunder, da er ja der Verfasser der Gedichte ist.“

Undine, die Wasserfee, deren Liebe zu einem Menschen zum Scheitern verurteilt ist, macht den Anfang. Diese Lieblingsgestalt der deutschen Romantiker (Hoffmanns Oper, Reineckes Flötensonate u.a.) wurde vom Franzosen Ravel aller Sehnsucht entkleidet und in ein pures Wesen der wogenden Wellen verwandelt. Die „Wassermusik“ aus Ravels früheren Stücken „Jeux d’eau“ und „Une Barque sur l’ocean“ wird hier in ihrem schillernden Gleißen noch gesteigert. Dabei mischt sich das grelle, verzerrte Lachen von Betrands Undine in den Klang des „spritzenden“ Wassers: „Und als ich ihr zur Antwort gab, dass ich eine Sterbliche liebe, weinte sie schmollend ein paar Tränen, stieß dann ein helles Lachen aus und verschwand in spritzenden Schaumwellen, die weiß an meinen blauen Fenstern vorüber riesselten.“

In „Le Gibet“ (Der Galgen) sah Arbie Orenstein den „Höhepunkt einer Entwicklung erreicht, die eine makabre, in Glockengeläut versinkende Landschaft heraufbeschwört. Auf kurzen vier Notenseiten lässt Ravel eine höchst poetische Tour de force ablaufen, mit einem bedrängenden Glocken-Orgelpunkt, der die Spannung und den Schrecken eines Poeschen Textes erahnen lässt. Die Partitur verlangt häufig drei Notensysteme, wobei der Orgelpunkt, den ein Gewebe komplizierter Akkorde überzieht, sowohl in der Melodie wie im Bass und in den Mittelstimmen vorkommt.“ In der Tat ist es die Glocke, die in Bertrands Gedicht das düstere Verhängnis des Gehängten besiegelt: „Die Glocke läutet an den Mauern einer fernen Stadt, während die Leiche eines Gehängten von der untergehenden Sonne blutrot gefärbt wird.“

27 verschiedene Anschlagsarten zählte der Ravel-Freund und Pianist Gil-Marchex im Finale des „Gaspard“. Sie sind notwendig, um die schillernde Gestalt des Zwerges Scarbo vor unseren Augen erstehen zu lassen. Bertrand nennt ihn den „grotesken Zwerg, der um Mitternacht, wenn der Mond am goldenen Sternenhimmel wie ein Silbertaler glänzt, von der Zimmerdecke herabpurzelt, herumwirbelt wie eine Hexenspindel, zur Riesengröße eines gotischen Kirchturms anwächst und schließlich gleich einer erlöschenden Wachskerze in sich zusammenfällt.“ Die nervöse Bewegung des Zwerges, sein gespannter Auftritt, das Wirbeln und Sich-Aufblasen zur riesenhaften Größe wird ebenso sicht- bzw. hörbar wie sein Zusammenfallen in ein Nichts. Dafür machte Ravel unter anderem von seinem überaus beweglichen Daumen Gebrauch, der bequem drei Noten anschlagen konnte. Seit der Uraufführung bis heute versetzt dieses Stück das Publikum in schwindelndes Staunen, hatte sich der Komponist doch ausdrücklich vorgenommen, hier die Schwierigkeiten der berüchtigten Orientalischen Fantasie „Islamej“ seines russischen Kollegen Balakirew noch zu überbieten. Es ist ihm gelungen.