"Kindermarsch", op. 94 | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Sergej Prokofieff

"Kindermarsch", op. 94

„Kindermarsch“ für Violoncello, op. 94

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 1496

Satzbezeichnungen

Erläuterungen

Einfach klassisch?

„Einfach“ ist das Klassische nur selten. Die so zwingend anmutende Abfolge der Themen in seiner 3. Leonoren-Ouvertüre hat Beethoven erst im dritten Anlauf erzielt. Wir hören die Vorstufe dazu: die keineswegs klassisch ausgewogene Ouvertüre Nr. 2. Mitten in der Arbeit an seinem auf russische Volksmelodien aufgebauten dritten Klavierkonzert musste Sergej Prokofieff seine Heimat verlassen: Die Oktoberrevolution vertrieb ihn erst nach Frankreich, wo er das Konzert vollendete, dann in die USA, wo es zur Uraufführung gelangte. Spielerische Heiterkeit überdeckt hier die tragischen Zeitläufte. Heiter und anmutig, in klassischer Ausgewogenheit beginnt auch die Zweite Sinfonie von Brahms – doch so einfach die Themen, so komplex ist ihre Verarbeitung in diesem Werk, weshalb es sein Schöpfer auch ein „liebenswertes Ungeheuer“ nannte.

Leonore Nr. 2

Wie in so vielen anderen Genres hat Ludwig van Beethoven auch in der Gattung der Opernouvertüre neue Maßstäbe gesetzt: Obwohl er nur eine einzige Oper komponiert hat, schrieb er dazu nicht weniger als vier Ouvertüren. Drei von ihnen tragen den ursprünglichen Titel der Oper, „Leonore“, unter dem das Werk 1805 aus der Taufe gehoben und 1806 wieder aufgenommen wurde. Schrittweise näherte sich Beethoven dabei seiner Konzeption einer idealen Ouvertüre an, bevor er für die viel spätere Wiederaufnahme unter dem Titel „Fidelio“ 1814 eine gänzlich neue und auch im Charakter völlig andere Ouvertüre komponierte, die als „Fidelio-Ouvertüre“ in die Geschichte einging.

Warum er zur Urfassung letztlich drei Ouvertüren schrieb, erklärt sich aus der Unzufriedenheit mit der Nr. 1. Als im Herbst 1805 endlich die so lange ersehnte Uraufführung seines Bühnenwerks bevorstand, kamen dem Komponisten Zweifel an der Wirkung des ursprünglich vorgesehenen Vorspiels. Sein Intimus Schindler berichtete darüber: „Der Komponist hatte selbst kein rechtes Vertrauen dazu, war daher einverstanden, dass sie vorher von einem kleinen Orchester bei Fürst Lichnowsky versucht werde. Dort wurde sie von einer Kennerschar einstimmig als zu leicht und den Inhalt des Werkes zu wenig bezeichnend gefunden, folglich beiseite gelegt.“ Beethoven schrieb dann kurz vor der Premiere die Leonoren-Ouvertüre Nr. 2, die der Oper tatsächlich als Vorspiel diente. Wiederum unbefriedigt über deren Instrumentierung und andere Details, überarbeitete er sie grundlegend und schuf so die berühmteste der drei Ouvertüren, die „Leonore“ Nr. 3. Sie diente jenen beiden Aufführungen der Oper zur Einleitung, die im Frühjahr 1806 im Theater an der Wien stattfanden, und verselbständigte sich dann sehr bald als „Grande Ouverture“ für den Konzertsaal, als welche sie schon 1810 gedruckt wurde. Nr. 2 dagegen teilte nach 1805 das Schicksal der unglückseligen Nr. 1: Beide verschwanden in der Versenkung, bis sie Felix Mendelssohn wieder aus derselben hervorholte und um 1840 höchst erfolgreich dirigierte. Erst in dieser Zeit kam es dann auch zur Drucklegung der beiden Werke.

Das Verhältnis der drei Ouvertüren zueinander zeigen schon die Taktzahlen: Die 365 Takte der Nr. 1 sind in der Nr. 2 bereits auf 530 Takte gedehnt. Nr. 3 erreicht dann schließlich die monumentalen Ausmaße von 630 Takten, einer der längsten sinfonischen Sätze Beethovens. Ganz bewusst kehrte der Meister für die „Fidelio-Ouvertüre“ zu den rund 300 Takten eines gewöhnlichen Opernvorspiels zurück.

Musikalisch unterscheiden sich die vier Ouvertüren dadurch, dass Nr. 1 und Nr. 4 keine Anspielungen und Themenzitate aus der Oper enthalten und den heroischen Duktus des Dramas nicht vorwegnehmen. Dies tun aber – mit identischem Themenmaterial und gekrönt von dem Fanfarenruf, der in der Oper die Rettung Fidelios anzeigt – die beiden Ouvertüren Nr. 2 und Nr. 3. Inspiriert durch ein Londoner Konzert, in dem Hans Richter alle drei Ouvertüren dirigierte, schrieb George Bernard Shaw über die Nr. 2: „In Nr. 2 atmen die Themen eine Frische und Leichtigkeit, die in der ernsteren und strengeren Nr. 3 fehlen. Freilich kann man als intimer Kenner von Nr. 3 einige Schwächen von Nr. 2 schwer ertragen: den noch unvollkommenen Zugriff, die vielen überflüssigen Schönheiten und besonders die lange, quasi-akademische Ausführung der Themen in der Mitte. Meiner Meinung nach sollte man Nr. 2 als eine erste, nicht erfolgreiche Vorstufe zu Nr. 3 betrachten und nicht als unabhängige Komposition.“ Dieser Meinung haben viele Dirigenten widersprochen, die gerade der zweiten Ouvertüre in ihrer Frische und Unmittelbarkeit den Vorzug geben.

Klavierkonzert Nr. 3

Als junger Pianist im zaristischen St. Petersburg schrieb Sergej Prokofieff 1911-1913 seine ersten beiden Klavierkonzerte, die er noch in der Heimat aus der Taufe hob. Nach dem Erfolg dieser beiden Werke machte er sich sogleich an die Arbeit an einem dritten Konzert, das ganz auf russische Volksmelodien zurückgreifen sollte. Um diese zu sammeln und zu bearbeiten, ließ sich der Komponist bis 1917 Zeit, so dass die Oktoberrevolution mitten in die Ausarbeitung des Konzerts hineinbrach. Im Mai 1918 ging Prokofieff in die USA, um den revolutionären Wirren zu entfliehen. Ein längerer Aufenthalt im Westen war anfangs gar nicht intendiert, doch dann wurden allein in Nordamerika vier Jahre daraus. Im Anschluss an diese Periode zog es Prokofieff 1922 zunächst nach Ettal in Bayern, wo er sich für 18 Monate ein Haus mietete und die spanische Sängerin Lina Llubera heiratete. Gemeinsam mit ihrem ersten Sohn zogen sie dann 1924 nach Paris.

Das dritte Klavierkonzert gehört zur amerikanischen Periode, obwohl es der Komponist während eines Sommerurlaubs 1921 in der Bretagne vollendete. Er hob es noch kurz vor Weihnachten 1921 in Chicago aus der Taufe. Der umjubelten Uraufführung folgten sehr rasch nicht minder erfolgreiche Erstaufführungen in New York, Paris und London. Mit dieser Erfolgsserie war Prokofieff international ein gemachter Mann. Das dritte Klavierkonzert öffnete ihm die Toren der großen Musikmetropolen.

Der Geiger Nathan Milstein hat von dem jungen Pianisten und Komponisten ein keineswegs sympathisches Porträt gezeichnet. Er begegnete Prokofieff, als er selbst noch ein halbes Kind und entsprechend leicht einzuschüchtern war: „In Petersburg lernte ich den jungen Sergej Prokofieff kennen, den Komponisten und Pianisten der Avantgarde. Vor allem wegen seiner ungewöhnlichen Lippen machte er einen befremdenden, ja sogar furchterregenden Eindruck auf mich. Seine Lippen waren geschwollen, fast zum Platzen mit Blut gefüllt, mit Schaum in den Mundwinkeln. Immer wenn Prokofieff ein spitzes Besteckteil in die Hand nahm, wurde ich unruhig. Was würde passieren, wenn er damit aus Versehen in die Lippen stäche?… Prokofieff war reizbar, schwerfällig und hässlich. Er hatte die für Blonde typischen farblosen Augen. Seine Energie allerdings glich seine Schwerfälligkeit aus. Es war ganz offensichtlich, dass er ein junges Genie war.“

Die Energie des jungen Genies kann man in jedem Moment das ebenso lyrisch schönen wie brillanten dritten Konzerts spüren, auch die vollgriffige Virtuosität des Pianisten Prokofieff. Den ersten Satz eröffnet die Klarinette mit einer russischen Volksmelodie, die eher im äolischen Kirchenton als in C-Dur steht. Diese kurze, melancholische Einleitung wird vom sanguinischen Hauptthema des Klaviers verdrängt, einer wirbelnden Tanzweise über Staccato-Achteln. Nicht minder tänzerisch ist das Seitenthema, eine barocke Gavotte der Oboe, die von Kastagnetten begleitet wird. Das Ballettgenie Prokofieff hat diesem Satz unüberhörbar seinen Stempel aufgedrückt.

Der zweite Satz, eine Folge von fünf Variationen über ein graziles, chromatisch gefärbtes Thema, enthält einige der schönsten Instrumentationseffekte Prokofieffs, besonders in der traurigen vierten und der vitalen fünften Variation. Bei der Wiederkehr des Themas am Ende wird die Melodie in langen Notenwerten in eine Art chromatischen Staccato-Regen des Klaviers getaucht – ein unvergesslicher Klangeindruck.

Das Finale beginnt in gleichsam verschmitzter Verkleidung: Die Fagotte spielen zum Pizzicato der Streicher einen grotesken, ungelenken Walzer. Weder ist diesem Thema anzuhören, wie furios es später gesteigert werden wird, noch lässt das Klavier anfangs erahnen, welche vollgriffigen Steigerungen im abverlangt werden. Den Mittelteil dieses Satzes hat Prokofieff lyrisch delikat angelegt: ein ausdrucksvoller des Orchesters alterniert mit einer munteren Marschweise des Klaviers.

Sinfonie Nr. 2

„Melancholie des Unvermögens“ (Nietzsche); „Inbegriff der musikalischen Impotenz“ (Wolf); „bar jeder wahren Größe“ (Bruckner); „lange schwerfällige Fantasien, die er Sinfonien nennt“ (Shaw) – die Zeitgenossen waren nicht zimperlich, wenn es um die Sinfonien von Johannes Brahms ging. Vehement ergriffen die Wagnerianer in Wien und andernorts Partei gegen den scheinbar Erzkonservativen aus Hamburg, dessen Sinfonik sich für sie aus gestrigen Quellen speiste. Als atavistischen Tribut an Mozart, Haydn und Beethoven hörten sie die einen, als epigonal schwächliches Imitat von Mendelssohn und Schumann die anderen. Nur wenige erkannten in den kompakten viersätzigen Werken so etwas wie „moderne Musik“ – in einer Zeit, als sich die Übersteigerungen des „Fin de siècle“ schon ankündigten und man im Orchester vor allem die schier unbegrenzten Klangmöglichkeiten auszuloten versuchte. Brahms dagegen legte seine Sinfonien in klassischer Klarheit an – was ihrem zutiefst romantischen Stimmungsgehalt keinen Abbruch tat, aber allen hitzigen Ekstasen seiner Epoche eine geradezu brüske Absage erteilte.

Die Zweite, im Sommer 1877 in Pörtschach am Wörther See begonnen und vollendet, hebt in eben jenem lakonischen Tonfall an, der Brahms‘ Feinde so sehr echauffierte: Nach einem kurzen „Vorhang“ der Celli und Bässe tauchen Hörner und Fagotte in wohligen Sexten in den D-Dur-Dreiklang ein. Die Klarinetten antworten eben so heiter in klarer, lichter Höhe. Aus der „Harmoniemusik“ der Wiener Klassiker bezieht dieser Anfang seinen schlichten Reiz, in der lieblichen Seenlandschaft Kärntens findet er seine Erklärung. Auch ohne in tonmalerische Klischees zu verfallen, wird man an die schöne Landschaft um den Wörther See denken, die Brahms in jenem Sommer 1877 so sehr inspirierte, dass er die Zweite in einem einzigen Anlauf niederschrieb – ganz im Gegensatz zur schier endlosen Entstehungsgeschichte der Ersten, die sich über 15 Jahre bis 1876 hingezogen hatte. Einmal von dem Druck befreit, seine „Erste“ vollenden zu müssen, ging Brahms das Sinfonische offenbar leicht von der Hand. Davon und von der Landschaft, die ihn beim Komponieren umgab, zeugt die Zweite. Es gibt hier – auch entstehungsgeschichtlich – auffällige Parallelen zur fünften und sechsten Sinfonie von Beethoven: Während man Brahms‘ Erste schon aufgrund ihrer Tonart c-Moll gerne mit der „Schicksalssinfonie“ verglich, denkt man bei der Zweiten ebenso unwillkürlich an Beethovens „Pastorale“. Beide Stücke sind heitere Huldigungen an die Natur.

Ein etwas respektloser jüngerer Zeitgenosse von Brahms freilich dachte bei dieser Sinfonie nicht an einen See in Kärnten, sondern an eine Shoppingmeile in London: George Bernard Shaw. Bissig wie immer bemerkte er von den Brahmssinfonien: „Wenn man sie ihrer Künstlichkeiten entkleidet, bleibt nichts anderes übrig als eine Kette unvollständiger Tanz- und Balladenmelodien, die mit kaum mehr an organischer Schlüssigkeit aufeinander folgen als die wechselnden Bilder, die sich in einem Schaufenster am Piccadilly während irgendwelcher zwanzig Minuten am Tag widerspiegeln. Das ist der Grund, warum Brahms so angenehm ist, wenn er nur versucht, gefällig oder auf naive Weise sentimental zu sein, und so unerträglich langweilig, wenn er versucht, tief zu sein.“ Obwohl man den gehässigen Untertönen dieses Zitats kaum wird zustimmen können, trifft Shaws Beschreibung auf den ersten Satz der Zweiten sehr wohl zu: Tanz- und Balladenmelodien lösen einander scheinbar zwanglos ab. Auf die alpenländische Hornweise des ersten Themas folgt als zweites Thema eine „naiv-sentimentale“ Ballade. Es handelt sich im eine Moll-Variante von Brahms‘ berühmtem Wiegenlied „Guten Abend, gute Nacht“. Während sich die kraftvollen Episoden dieses Satzes aus einem dritten, rhythmisch scharfkantigen Motiv ableiten, bleiben in den idyllischen Abschnitten gemächlicher Tanzrhythmus und Balladenton omnipräsent. Freilich hat Brahms dem allzu lieblichen Sentiment einen Riegel vorgeschoben: Gleich nach dem ersten Thema erklingt ein merkwürdig fahler Einschub der Posaunen. In seinen Briefen erklärte der Komponist diesen Schatten, der auf die ansonsten so helle Sinfonie fällt, mit der Motette „Warum ist das Licht gegeben dem Mühseligen?“, die er parallel zur Sinfonie ausarbeitete. Die bohrende Frage der düsteren Motette kehrt auch in der Sinfonie wieder.

Im zweiten Satz bricht sie sich Bahn: Er beginnt als ein schwermütiger Klagegesang im Duktus einer barocken Pavane – ganz ähnlich der sehr viel später komponierten „Pavane für eine verstorbene Infantin“ von Ravel. Auch bei Brahms scheinen der Rhythmus und der schwermütige Charakter des Satzes auf eine Totenklage zu verweisen. Dem steht im Mittelteil ein zartes Wiegenlied aus lauter Synkopen gegenüber, während die Abschnitte dazwischen als große, dramatische Steigerungen angelegt sind. Die seltene Tonart H-Dur verleiht dem Satz noch zusätzlich eine gleichsam schwebende, entrückte Aura.

Umso diesseitiger gibt sich der dritte Satz: als simpler Volkstanz. Die kurzen Vorschläge auf jeder dritten Note und der slawische Duktus lassen an einen tschechischen Bauerntanz denken, den Brahms hier in vielfältigster Weise variiert hat. Auch das Finale bleibt dem Tanzcharakter treu. Während das erste Thema noch in geheimnisvollem Unisono angestimmt wird, gibt sich der Rest des Satzes der festlichen Vollstimmigkeit, jubelnder Lebensfreude und den prallen Synkopen des Seitenthemas hin.