Sextett (Sextuor) für Bläser und Klavier
Werkverzeichnisnummer: 1484
1. Allegro vivace
2. Divertissement. Andantino
3. Finale. Prestissimo
„Wird nach all den impressionistischen Nebeln nicht diese simple und klare Kunst, die so sehr an Scarlatti und Mozart erinnert, die nächste Phase unserer Musik sein?“ So fragte der südfranzösische Komponist Darius Milhaud, als er zum ersten Mal Musik seines Pariser Kollegen Francis Poulenc hörte. Beide Musiker gehörten zu jener Generation junger Franzosen, die sich nach dem Ersten Weltkrieg vehement von den Idealen des Impressionismus abwandten, um aus den klaren Formen der Wiener Klassik und den Experimenten Strawinskys einen neuen Stil zu formen.
Bald schon schlossen sich fünf dieser Komponisten mit einer jungen Kollegin zur „Groupe des Six“ zusammen, zu einer ebenso respektlosen wie einfallsreichen Komponistengruppe, die zum Inbegriff der französischen Musik zwischen den Weltkriegen wurde. „Der wahre Spaßvogel der Sechs war Poulenc; seine Lausbubenstreiche waren bekannt in den Pariser Künstlerkreisen nach dem Ersten Weltkrieg, als man Humor dringend nötig hatte.“ (Herbert Glass) Zugleich aber war Poulenc ein tief gläubiger Katholik, der wunderbare geistliche Chormusik geschrieben hat, und ein subtiler Poet der Mélodie, des französischen Kunstliedes, das er mit neuem Leben erfüllte. Für die Holzbläser schuf er einen Schatz von fünf Werken – das Sextett, ein Trio und je eine Sonate für Flöte, Klarinette und Fagott – , die zum Schönsten gehören, was die Bläserkammermusik hervorgebracht hat. Und auch auf der Bühne feierte er einen nachhaltigen Erfolg mit seiner Oper Dialogues des Carmélites von 1956, die zu den wenigen Repertoirestücken des modernen Musiktheaters zählt. All dies verleiht ihm einen besonderen Rang unter den französischen Komponisten des 20. Jahrhunderts. Vor fast genau 50 Jahren, am 30. Januar 1963, ist Francis Poulenc in seiner Heimatstadt Paris gestorben.
Seiner heiß geliebten Vaterstadt hat der Komponist so manches Denkmal gesetzt. Keines ist schöner und unterhaltsamer als sein Sextett für Klavier und Bläser. Es stößt uns mitten hinein ins pulsierende Leben der Metropole Paris. Der Anfang klingt so, als befänden wir uns auf den Grands Boulevards. Stimmen der Großstadt klingen planlos durcheinander, Autohupen, Straßenlärm, Schreie. Alle sind in Bewegung, rennen, hetzen und wirbeln. Eine Pariser Schönheit schlendert, eine Flötenmelodie pfeifend, an uns vorüber, doch die Hektik setzt von neuem ein. Endlich finden wir Zuflucht in einem Bistro und können uns bei einem Croissant und Café au lait einem sentimentalen Traum hingeben, bevor wir uns wieder ins Gewühl stürzen.
So oder so ähnlich könnte man den Kopfsatz von Poulencs Sextett deuten. Denn wie seine Freunde von der Groupe des Six hatte er es sich zum Ziel gesetzt, „musikalische Prosa“ zu schreiben, eine Musik des Alltags, in der die subtile „Stimmungsmalerei“ der Impressionisten durch sehr viel prosaischere Klänge ersetzt wird: durch die Klangkulisse der modernen Großstadt. In seinem Sextuor ist ihm dies auf hinreißende Weise gelungen. „Mehr als alle anderen unter Les Six hatte sich Poulenc das Diktum ihres Mentors Erik Satie zu Herzen genommen, dass Einfachheit, Witz, ja sogar Albernheiten sublim sein können; und nirgendwo in Poulencs Instrumentalmusik wurden diese Qualitäten besser ausgedrückt als in seinem funkensprühenden Sextuor für Klavier und Bläser, vollendet im Jahre 1932, aber gründlich revidiert im Jahre 1939 für die Aufführung mit dem Komponisten selbst am Klavier (er war ein hervorragender Pianist). Diese endgültige Version des Werkes wird heute allgemein gespielt.
Poulenc suchte die Seele der Musik auf den Straßen und in den Kaffeehäusern und Cabarets von Paris anstatt in den Konzertsälen. Er fand, was er suchte in den sentimentalen oder auch schlüpfrigen Chansons populärer Kabarettsänger und bei solchen, die er ‘einfache Leute mit Phantasie’ nannte. Das Sextett— sein größtes Werk für Kammermusik— ist ureigener Poulenc, mit einer Mischung von trocken-bissigem Humor mit eklatanter Sentimentalität — die Musik eines Mannes, für den die Trennlinie zwischen Lachen und Weinen immer hauchdünn war. Das Werk besteht aus drei Sätzen mit zahlreichen Unterabteilungen in einem ständigen Tempo- und Stimmungswechsel. Bezeichnungen wie ‘sehr trocken’, ‘sehr heiter’, ‘sehr innig und ausdrucksvoll’, ‘melancholisch’ finden sich überall in dieser köstlichen Partitur und beschreiben ihren Inhalt viel besser als die formellen Satztitel.” (Herbert Glass)
Aus den ständig wechselnden Tempi entsteht ein schillerndes Panorama kontrastierender Stimmungsbilder, das von der ganzen Palette moderner Bläsermusik Gebrauch macht einschließlich der Flatterzunge auf der Flöte, der herausplatzenden Huptöne des Horns und der blökenden Naturlaute der Oboe. Doch auch im weichen, gesanglichen Genre ist Poulenc den Möglichkeiten der Holzbläser nichts schuldig geblieben. Als virtuoser Pianist steuerte er dazu selbst die unermüdliche motorische Klangfolie bei, die vom Klavier aus das Stück elektrisiert.
Nach dem großstädtisch hektischen Kopfsatz zeigt uns der Mittelsatz die idyllischen Seiten von Paris: Sonntagnachmittag auf dem Montmartre, an der Seine oder im Bois de Boulogne. Die leicht sentimentale Melodie wird von Instrument zu Instrument weitergereicht. Im schnellen Mittelteil des Satzes scheinen wir dagegen auf einen Jahrmarkt geraten zu sein, wo es drunter und drüber geht. Poulenc liebte Jahrmärkte, ihre kindlich verspielte Atmosphäre und bunte Bilderwelt. Im Mittelteil dieses Satzes hat er sie eingefangen.
Das Finale scheint, um im Pariser Bild zu bleiben, am besten ins Pigalle zu passen, ins schillernde Pariser Vergnügungsviertel, wo in den Dreißiger Jahren die Nachtclubs und Music Halls zum hemmungslosen Tanzvergnügen einluden. Poulenc genoss die Aura dieser Lokale in vollen Zügen. In den Liedern der Entertainer, der „einfachen Leute mit Einbildungskraft“, wie er sie nannte, fand er die Inspiration für seine spezifische Lyrik der Instrumentalmusik. Im Finale des Sextetts leuchtet diese heute verlorene Seite von Paris aufs schönste hervor. Das Werk schließt mit einer einzigen Hymne auf die Seinemetropole.