Streichquintett g-Moll, KV 516 | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Wolfgang Amadeus Mozart

Streichquintett g-Moll, KV 516

Quintett g-Moll für zwei Violinen, zwei Violen und Violoncello, KV 516

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 1387

Satzbezeichnungen

1. Allegro

2. Menuetto. Allegretto – Trio

3. Adagio ma non troppo

4. Adagio – Allegro

Erläuterungen

Mozarts Streichquintette

Wolfgang Amadeus Mozarts Streichquintette galten Johannes Brahms als Muster formaler Vollkommenheit, Franz Schubert als „wohlthäthige Abdrücke eines lichtern bessern Lebens“, der modernen Musikwissenschaft als „seine größte Leistung in der Kammermusik“ (Charles Rosen). Der Mozart-Biograph Otto Jahn rühmte am g-Moll-Quintett die klassische Einheit von Inhalt und Form: wie in ihm „beide, die Wahrheit und Kraft der psychologischen Entwicklung und die Reinheit und Schönheit der künstlerischen Form, in ihren wesentlichen Manifestationen zusammenfallen und eins sind.“ Dieser gleichsam klassizistischen Deutung der Quintette steht bis heute eine biographische Interpretationstradition gegenüber, die sie als tief persönlichen Ausdruck für die Vereinsamung und den zunehmenden Misserfolg Mozarts in den Jahren 1787-1790 deutet, wie es Alec Haytt King oder Hermann Abert taten.

Keine der beiden Rezeptionshaltungen wird dem ursprünglichen Kontext der Werke gerecht, der von den Gesetzen des Musikmarktes und von Mozarts Experimentierfreude bestimmt war. Wenn man von Mozarts Streichquintetten spricht, sind meist nur die vier großen Wiener Quintette gemeint, während das frühe Salzburger B-Dur-Quintett, KV 174, und die Bearbeitung der c-Moll-Bläserersenade, KV 406, ausgeklammert werden. Dabei verraten gerade diese Quintette einiges über Mozarts Beziehung zu dieser Gattung.

Ein Streichquintett Michael Haydns war der äußere Anlass für sein erstes Quintettexperiment von 1774. Schon damals schuf er ein Werk von fast der doppelten Ausdehnung seiner frühen Streichquartette, in dem er Kammermusik und konzertierenden Stil zu einer neuen Einheit zusammenfügte. Dass er auf diesen Weg 1787 zurückkehrte, hatte wiederum mit einer Anregung von außen zu tun: Franz Anton Hoffmeister und Ignaz Pleyel hatten in den Jahren 1786 und 1787 höchst erfolgreich Zyklen von Streichquintetten mit zwei Bratschen publiziert. Mozart hoffte, an diesem Aufstieg einer neuen Kammermusikgattung partizipieren zu können, zumal diese im Gegensatz zum Streichquartett noch nicht durch Werke Joseph Haydns belegt war. In dieser sehr konkreten Absicht schrieb er im April und Mai 1787 die beiden Quintette KV 515 und 516. Mithilfe des c-Moll-Arrangements KV 406 konnte er dieses Werkpaar zum üblichen Dreierzyklus erweitern und so im April 1788 „drei neue Quintetten à 2 Violini, 2 Viola und Violoncello schön und korrekt geschrieben auf Subsripzion“ anbieten.

Die beiden späten Quintette von 1790/91 sollen „auf eine sehr thätige Aneiferung eines Musikfreundes“ hin komponiert worden sein, demnach regelrecht als Auftragswerke. Dennoch hat Mozart auch bei ihnen von vornherein an eine Publikation gedacht, und zwar wiederum in einem Dreierzyklus. Gerade aus seinem letzten Lebensjahr haben sich eine ganze Reihe von Skizzen für weitere Quintette erhalten, u. a. das sehr weit gediehene Particell eines a-Moll-Quintetts. Die Möglichkeiten der Gattung waren für Mozart also nach KV 614 noch keineswegs erschöpft. Um wen es sich bei dem besagten „amatore ongarese“ handelt, ist strittig. Meist wird der Wiener „Großhandlungs-Gremialist“ und hervorragende Quartettgeiger Johann Tost genannt, dem auch Haydn seine sog. „Tostquartette“ op. 54/55 gewidmet hatte. Freilich käme auch Johann Carl Graf Hadik in Frage, der Sohn eines berühmten ungarischen Feldmarschalls der theresianischen Zeit, bei dem Mozart im Frühjahr 1790 sein Divertimento für Streichtrio aufführte.

Soweit zur äußeren Entstehungsgeschichte der Werke. Ob ihr eine Art „innerer“ Entstehungsgeschichte gegenüber stand, die von Todeserfahrungen Mozarts (der Vater, sein Freund Hatzfeld), von Resignation und Melancholie geprägt war, bleibt der Fantasie der Interpreten überlassen. Was sich in diesen Werken mitteilt, kann man als subjektive Leiderfahrung deuten, ebenso aber als Mozarts kompromisslosen Kunstanspruch: Im Streichquintett erreicht die komplexe harmonisch-melodische Sprache und die ausgedehnte Formentwicklung seiner reifen Wiener Jahre ihren Höhepunkt. Inspiriert vom Mittelstimmenklang der beiden Bratschen und von den reichen satztechnischen Möglichkeiten, die sich aus der Oktavkopllung der Instrumente, aus ihrer Gruppierung in dreistimmige Teilchöre und aus ihrem konzertanten Dialog ergaben, eroberte er hier sein ureigenstes kammermusikalisches Terrain. Während Haydn im Streichquintett „die fünfte Stimme einfach nicht finden konnte“, bersten Mozarts Quintette vor klanglichem und satztechnischem Reichtum.

Die vielfältigen Möglichkeiten zur Aufgliederung des Quintettsatzes zeigen exemplarisch die Anfänge der vier großen Werke: im C-Dur-Quintett ist es ein Dialog zwischen Cello und erster Geige über Mittelstimmenbegleitung, im g-Moll-Quintett ein Dialog zwischen Oberchor (Violinen, Viola I) und Unterchor (Violen, Cello), im D-Dur-Quintett ein vierstimmiger Gesang, skandiert von Cellomotiven, im Es-Dur-Quintett ein Dialog zwischen Bratschen- und Geigenpaar.
Auch in der Affekthaltung und im Stil verbergen sich hinter diesen Anfängen diametrale Gegensätze, Extrempunkte des Mozartschen Kosmos, die sich zwanglos zu den vier großen Opern in Beziehung setzen lassen. Das C-Dur-Quintett ist ein konzertanter Dialog von riesigen Ausmaßen und lebensbejahender Kraft, dem Figaro vergleichbar, das g-Moll-Quintett ein Monolog für fünf Instrumente, der wie Don Giovanni immer tiefer in die Nachtseiten der menschlichen Existenz vordringt. Das D-Dur-Quintett kann als instrumentales Schwesterwerk von Così fan tutte gelten, ein sublimes kontrapunktisches Spiel voll melancholischer Zwischentöne, während das Es-Dur-Quintett wie die Zauberflöte zwischen Volkston und stillem Ethos einen Ausgleich findet.

Quintett g-Moll, KV 516

Seine ersten beiden vollendeten Streichquintette schuf Mozart bezeichnenderweise als Werkpaar in Dur und Moll – analog zu den Klavierkonzerten in d und C, KV 466/467, und zu den letzten beiden Sinfonien, KV 550/551. Das C-Dur-Quintett, KV 515, trug er am 19. April 1787 als vollendet in sein Werkverzeichnis ein, das g-Moll-Quintett folgte am 16. Mai. Die beiden Werke fallen damit in die Arbeit am „Don Giovanni“, dessen ausgeprägte Polarität zwischen d-Moll und D-Dur hier gleichsam kammermusikalisch vorweggenommen wird.

Dass die Tonart g-Moll für Mozart eine besondere Bedeutung hatte, kristallisierte sich schon früh in seinem Schaffen heraus. Bereits die ersten großen Opern enthalten von Todesahnungen heimgesuchte Arien in g-Moll. Aspasia im „Mitridate“ und Ramiro in der „Finta giardiniera“ haben jeweils ihre Aria agitata in g-Moll, eine Tradition, die Mozart von den großen Meistern der Opera seria wie Johann Christian Bach, Antonio Sacchini oder Niccolò Piccinni übernahm. Es war also eine Opern-Konvention, die er aufgriff und in höchst subjektiver Weise in „sein“ g-Moll verwandelte. In seinen Opern setzt sich diese Linie über Zaide und Ilia im „Idomeneo“ bruchlos fort bis zu den großen g-Moll-Arien Konstanzes und Paminas.

In der Instrumentalmusik hat Mozart diesen Agitato-Charakter in eine „Klangrede“ von noch weit persönlicherem Ausdruck verwandelt. Bereits 1774 gelang ihm das Meisterstück seiner „kleinen“ g-Moll-Sinfonie, KV 183, das „große“ Gegenstück sollte 1788 folgen. Dazwischen stehen die großen g-Moll-Stücke in seiner Kammermusik: die G-Dur-Violinsonate KV 379 mit ihrem erregten g-Moll-Allegro, das g-Moll-Klavierquartett KV 478 und das g-Moll-Streichquintett KV 516. Unvollendet blieben ein spätes Streichquartett in g-Moll und eine Klaviersonate in dieser Tonart.

Im g-Moll-Streichquintett, KV 516, dringt der spezifische Ton des Mozartschen g-Moll in die Kammermusik ein: ein von tiefer Trauer über unterschwellige Erregung bis zum Verzweifelungsausbruch reichender Affektradius. Es kann „in jeder Hinsicht und in jedem Satz als ein revolutionäres Werk bezeichnet werden, was übrigens nicht heißt, daß es etwa eine Revolution in der Musik ausgelöst hätte“ (Marius Flothuis). Der Spannungsbogen vom ersten Satz bis zur langsamen Einleitung des Finales bezeichnet ein Vordringen in immer tiefere Regionen des Leids, ohne dass Mozart autobiographisch eigenes Leid hätte darstellen wollen. Das Stück wirkt vielmehr wie eine Meditation über den Tod, ein Thema, das Mozart seit 1787 zunehmend verfolgte.

1. Satz: Pochende Achtel in den Begleitstimmen durchziehen fast permanent das einleitende Allegro. Vier Fünftel des Satzes verweilen in Moll; die Dichte der Chromatik, die das Hauptthema einführt, nimmt von der Exposition über die Durchführung und Reprise bis zur Coda beklemmende Ausmaße an. Zugleich ist der Satz, von wenigen kontrapunktischen Episoden abgesehen, eine gewaltige Monodie, ein einziger Klagegesang, dessen Hauptstimme von Instrument zu Instrument weitergereicht wird. Das Hauptthema mit seinem gebrochenen g-Moll-Dreiklang und dem Absinken in resignative Chromatik wird von den beiden Geigen und der ersten Bratsche angestimmt, vom Unterchor der drei tiefen Stimmen aufgegriffen, für wenige Takte zum orchestralen Quintettklang gesteigert, um dann wieder in resignatives Piano zu versinken. Immer wieder kommt es zu solchen Dialogen zwischen Ober- und Unterstimmen, immer wieder werden Klangballungen an Höhepunkten erreicht und für stillere, resignative Töne wieder verlassen. Als motivisches Band zwischen allen Satzteilen fungiert das zweite Thema mit der klagenden, kleinen Sext, ein veritables Lamento-Motiv. Es wird in der Durchführung in Sekundreibungen suggestiv gesteigert und nimmt in der Coda – nach der gleichsam zusammengeballten Chromatik des Hauptthemas – eine letzte resignative Wendung. Der Satz verklingt in absteigenden chromatischen Linien, Mozarts Todeslinien gewissermaßen – ein Don Giovanni-Zitat.

2. Satz: Die Erregung des Kopfsatzes klingt im Menuett noch nach, ja sie steigert sich dort bis zum veritablen Aufschrei. Mozart hat hier das Menuett vor den langsamen Satz gezogen, um den breiten Achtelklangflächen des Kopfsatzes einen rhythmischen Kontrast entgegenzusetzen. Von der üblichen achttaktigen Periodik eines Menuetts kann hier freilich keine Rede sein. Der Hauptteil in g-Moll bietet ein Bild der Zerrüttung im Wechsel zwischen absinkenden Gesten und plötzlichen Ausbrüchen, in der rhythmischen Unsicherheit des permanent verschobenen Taktschwerpunkts. Im G-Dur-Trio scheint sich das Bild aufzuhellen. Die Schlusswendung des Hauptteils wird unversehens nach Dur versetzt, eine Idylle des Trostes scheint erreicht, die gepeinigten Vorhalte des Menuetts verkehren sich in sanftere Gesten stillen, gedämpften Leids – wenn man denn zu so deutlichen Metaphern greifen will.

3. Satz: Auch um die Tiefe des Es-Dur-Adagios zu beschreiben, griffen Mozartfoscher immer wieder zu Gleichnissen. Alfred Einstein verwies auf Jesus in Gethsemane, was vielleicht an der Bedeutung des Satzes nicht völlig vorbeigeht. Denn er zeigt deutliche Parallelen zu den Sieben letzten Worten unseres Erlösers am Kreuz von Haydn, die Anfang 1787 in der Streichquartettfassung erschienen waren. Mozart scheint im Sordino-Klang der Streicher und dem Dur-Pathos der Es-Dur-Melodie die quasi-religiöse Aura dieser sieben Haydn-Adagios imitiert zu haben. In zwei plötzlich einbrechenden Mollepisoden wird dieser Ton zum Klagegesang gesteigert, um sich anschließend in einer wundersamen, Schubertischen Wendung nach Dur aufzuhellen. Der Übergang wird jeweils in chromatischen Modulationen vollzogen, in denen Mozart bis an die harmonischen Grenzen seiner Zeit vorstieß.

4. Satz: Zu den subtilsten Abstufungen in Mozarts Kammermusik gehört der Anschluss zwischen dem 3. Satz, dem Es-Dur-Adagio non troppo im Vierertakt con sordino, und der langsamen Einleitung des folgenden Finales, einem g-Moll-Adagio im Dreiertakt senza sordino. Über Pizzicato-Bässen und den pochenden Achteln aus dem ersten Satz weicht die gefasste Haltung des Gebets äußerster Verzweiflung, dem Lamento-Topos der Opera seria. Letztlich bleibt dieser Höhepunkt jedoch ohne Lösung. Denn in einer rätselhaften Wendung hat Mozart diesem extremsten Ausdruck des Leids ein nonchalantes Rondo in G-Dur folgen lassen, ein typisches lieto fine, vielleicht aber auch blanke Ironie. Denn das zweite Thema des Rondos greift auf das klagende Sextenthema aus dem Kopfsatz zurück. Das Rätsel dieses scheinbar so unbekümmerten Rondos haben die Forscher nicht lösen können.

Karl Böhmer