Quartett Nr. 2 für zwei Violinen, Viola und Violoncello, op. 17
Werkverzeichnisnummer: 138
1. Moderato
2. Allegro molto capriccioso
3. Lento
Streichquartett Nr. 2
Die sechs Bartók-Quartette sind der klassische Quartettzyklus der Moderne, ein Nonplusultra streicherischer Möglichkeiten, wie es in den 1820-er Jahren die sechs späten Quartette Beethovens und in den 1870-ern die Brahmsquartette waren. Herausfordernd anspruchsvoll bilden sie für jede moderne Quartettproduktion die Messlatte, sei es für junge Komponisten, sei es für junge Streichquartette auf dem Weg zur Karriere. Jedes der sechs Werke hat dabei seine ganz ausgeprägte Eigenart. So bezeichnet man das Fünfte gerne als Extrem an dissonanter Akkordballung und perkussiver Rhythmik, das sechste als quasi-romantischen Abgesang.
Das zweite Quartett, komponiert in den Jahren 1915 bis 1917, also mitten im Ersten Weltkrieg, gilt als Höhepunkt von Bartóks „expressionistischer Phase“. Obwohl nur dreisätzig, kommt es auf eine Spieldauer von fast 30 Minuten, was noch auf die Expressivität der Wiener Jahrhundertwende zurückverweist. Auch im Stil wirkt es nachromantisch-ausdrucksvoll. Bartóks Freund und Kollege Zoltán Kodály belegte die drei Sätze mit den imaginären Überschriften Ruhiges Leben, Freude und Leid, was allein schon von einer romantischen Auffassung zeugt. Dem hat Bartók Vorschub geleistet, indem er 1909 bekannte, „dass es eigentlich die Werke eines Menschen sind, die die bedeutsamen Ereignisse und die bestimmenden Passionen seines Lebens genauer vermitteln als die Biographien“.
Neben solcherart biographisch inspirierter Expressivität belegt das Stück die Volksmusikstudien, die Bartók, mit Spazierstock, Notenpapier und Phonograph bewaffnet, seit 1906 in allen Teilen Ungarns unternommen hatte. Der Krieg hatte diese Feldforschung eingeschränkt, doch Bartók nutzte die Periode, um seine Funde zu transkribieren und um großformatige Werke „mit ‚imaginären‘ Volksmusik-Themen, und zwar auf der Basis der Musik mehrerer Völker zu schaffen“ (L. Somfai).
Eines dieser Werke war das zweite Streichquartett. Sein erster Satz, Moderato, beruht auf einem weit ausschwingenden Thema im Sinne der erwähnten „imaginären“ Folklore. Mit seiner Chromatik und seinen expressiven Vorhalten prägt das Thema die gesamte Entwicklung dieses Sonatensatzes.
Der Mittelsatz ist ein exzentrisches Scherzo, wie schon die Bezeichnung Allegro molto capriccoso verrät. Er spielt mit dem Wechsel von Zweierbindungen und Staccato und gemahnt durch die kurzen, chromatischen Vorschläge an orientalische Einflüsse in der Musik des Balkans, bedingt durch die Jahrhunderte unter türkischer Herrschaft.
Für das abschließende Lento hat Bartók die von ihm so bewunderte Musik der ungarischen Bauern benutzt, nicht etwa im Tonfall jener falschen „Zigeunermusik“ kitschiger Salonkapellen, sondern mit allen Eigenschaften kerniger Folklore. Sie dient hier als Inspirationsquelle für eine Elegie, in der sich die Trauer über die Ereignisse des Ersten Weltkriegs widerzuspiegeln scheint.
Bartók im Berberland
Die musikalischen Eindrücke, die Béla Bartók im Sommer 1913 im Land der Berber sammelte, hat er im Mittelsatz seines zweiten Streichquartetts verarbeitet. In keinem seiner Quartette war er weniger ungarisch als in diesem.
Im Juni 1913 schiffte sich Bartók mit seiner Frau Márta in Marseilles ein, um in Algerien musikethnologische Feldforschungen zu betreiben. Wieder war er, wie bei seinen Recherchen zur ungarischen Bauernmusik, mit einem Phonographen und mit Notenpapier ausgerüstet, und wieder war er fest davon überzeugt, dass er nur „im Grünen“ fündig werden würde, sprich: fern von Algier, in den Oasen an der Grenze zur Sahara. Bartók war davon überzeugt, dass es sich bei der Musik der arabischen Städte nur um eine korrumpierte frühere Hofmusik handelte, nicht um „echte“ ländliche Folklore. Diese wollte er – wie seinerzeit in Ungarn – bei der „Landbevölkerung“ aufstöbern, eine fixe Idee, die ihn zur Tour durch diverse Oasen verleitete. Dort setzte er den verdutzten Berbern seinen Phonographen vor, in den sie hinein singen mussten, ob sie wollten oder nicht. Mal hatte er einen „wunderbaren, schielenden Sänger“ vor sich, mal widerstrebende Nomaden, die den Komponisten und seine Frau durch ihre „finsteren Blicke“ erschreckten.
Auch wegen des Klimas war die Reise nicht ganz so ergiebig, wie Bartók gehofft hatte. Vor dem Aufbruch stellte er noch vollmundig Vergleiche zwischen dem ungarischen und algerischen Klima an: „Die Hitze macht mir keine Sorgen. Die höchste jemals gemessene Temperatur in Biskra beträgt 48 Grad im Schatten, aber es ist unwahrscheinlich, dass sie schon im Juni erreicht wird. Außerdem haben wir in Ungarn ebenfalls Temperaturen von 40 Grad, was ich sehr gut aushalten kann. Ich mag die Hitze.“ Vor Ort in Algerien erwies sich das nordafrikanische Klima freilich als ungleich strapaziöser als das ungarische. Nach nur zwei Wochen mussten die Eheleute die Segel streichen und nach Algier zurückkehren, weil Bartók ernsthaft erkrankt war und durch die Hitze schon zu viel Gewicht verloren hatte. Er nahm sich fest vor, im Jahr darauf zurück zu kehren, doch dann brach der Erste Weltkrieg aus. Bartók wurde zwar aus gesundheitlichen Gründen vom Dienst an der Front befreit, musste nun aber auf höchste Weisung hin ungarische Folklore sammeln, nämlich unter den Soldaten.
So traten die Ergebnisse der algerischen Reise allmählich in den Hintergrund. Er verfasste einen grundlegenden Aufsatz darüber, und ließ die musikalischen Skizzen erst einmal ungenutzt liegen, bis er sei endlich 1915 im zweiten Streichquartett aufgriff. Im Oktober 1917 war es beendet und wurde schon am 3. März 1918 in Budapest zur Uraufführung gebracht. 18 Tage später brach an der Westfront des Ersten Weltkriegs die verheerende Frühjahrsoffensive des deutschen Heeres los.
Ob die Zuhörer der Uraufführung aus dem ersten Satz des Quartetts Sehnsucht nach Frieden heraushörten? Zumindest ein Zuhörer empfand es so: Bartóks Kollege und Freund Zoltan Kodály. Ihm fiel zu dem neuen Quartett seines Freundes spontan ein Programm ein: Das Ganze nannte er „Episoden“, die drei Sätze „Ruhiges Leben“, „Freude“, „Leid“. In der Tat wirkt das einleitende Moderato friedlich, trotz der atonalen Harmonik, denn es wird vom weichen Schwung des Neunachtel-Takts getragen. Der melodische Schlenker der ersten Geige zu Beginn ist das einprägsamste Motiv. Er kehrt im Satzverlauf immer wieder. Die zerklüftete Tonalität gibt allmählich tonale Inseln frei, Sehnsuchtsgesänge. Auf einmal hört man eine mittelalterliche Weise, eine Art Organum, feierlich leise. Es eröffnet die Durchführung des Sonatensatzes, dessen Reprise ganz leise und zögerlich einsetzt.
Im Mittelsatz bricht ein Pandämonium der Rhythmen los, denn Bartók hat hier seine Eindrücke von der Algerienreise 1913 verarbeitet. Als Zwischenergebnis seiner Feldforschungen hatte er damals festgehalten: „Die Araber begleiten fast alle ihre Lieder mit Trommeln, manchmal in einem sehr komplizierten Rhythmus … Es gibt viele primitive Melodien, die auf drei angrenzende Noten der Skala beschränkt sind. Der Umfang einer Quint wird schwerlich jemals überschritten. Da alle ihre Streichinstrumente verloren sind, benutzen sie die Geige.“ Der Anfang des Satzes klingt so, als habe Bartók einen arabischen Musiker auf seiner Geige nachahmen wollen, der von Trommeln begleitet wird, während er seine um wenige Töne kreisenden Melodien mit arabischen Ornamenten spielt. Die zweite Geige markiert einen einpeitschenden Trommelrhythmus, die Bratsche tritt unregelmäßig mit gezupften Oktaven hinzu, die wie eine zweite Trommel klingen. Das arabische Thema wird von Cello und Bratsche aufgegriffen und im Duktus immer wilder, auch dank der penetranten „Percussion“. Allmählich scheint der arabische Duktus in ungarische Musik überzugehen, die an Bartóks „Allegro barbaro“ erinnert. In der Rondoform des Satzes schieben sich skurrile Episoden zwischen die perkussiven Hauptteile. Erst wandert eine schnelle Skala irrlichtern durch die Stimmen, dann stimmt die erste Geige eine elegante Wienerische Serenade an, zur Gitarrenbegleitung der anderen Instrumente – ein ironischer Seitenblick Bartóks auf den Klang des Wiener Schönberg-Kreises. Danach kehren die eruptiven Rhythmen und arabischen Ornamente zurück. Ein gespenstisches Unisono im rasend schnellen Tempo bereitet den Schluss vor, der noch einmal in die Vollen der gehämmerten Akkorde greift.
„Leid“ – diese Assoziation hatte Kodály, als er das Finale des zweiten Bartók-Quartetts hörte. In der Tat beginnt es mit Schmerzensdissonanzen, abgemildert durch die gedämpften Saiten. Durch den ganzen Satz ziehen sich diese schmerzlichen Sekundreibungen und die fallenden Gesten der Klage – mal in fahler Zweistimmigkeit, mal im vollen Klang des Ensembles, mal als klagendes Violinsolo, mal als Kontrapunkt aller Stimmen. Die Intensität dieses Lento-Finales ist kaum zu beschreiben. Am Ende versinkt die Musik, nach einem letzten Aufbäumen, in tiefer Resignation: dissonante Zweiklänge, ein Geigensolo, zwei Pizzicatoschläge, und der Spuk ist vorbei. Mancher Zuhörer mag dieses Finale damals, im März 1918, wie ein Lamento auf die zahllosen Opfer eines sinnlosen Krieges empfunden haben.