Quartett A-Dur für Flöte, Violine, Viola und Violoncello, KV 298
Werkverzeichnisnummer: 1369
1. Andante con variazioni
2. Menuetto – Trio
3. Rondieaoux. Allegretto grazioso, mà non troppo presto, però non troppo adagio. Così – così – con molto garbo ed Espressione
2021
Flötenquartett für die Wiener Landstraße
Der Sommer 1786 war für Mozart ein besonders vergnügter und entspannter. Nach dem Uraufführungserfolg von „Le nozze di Figaro“ genoss er das Leben in vollen Zügen – in seinem kleinen Garten auf der Wiener Landstraße Nr. 224, in unmittelbarer Nachbarschaft der Professorenfamilie von Jacquin. Franziska, die Tochter des Hauses, war seine Klavierschülerin, ihr Bruder Gottfried sein Kompositionsschüler und Intimus jener Jahre. Gottfried zierte mit seiner schönen Baritonstimme und seinem Flötenspiel so manchen geselligen Abend in jener Runde. Genau in diesem Umfeld ist Mozarts A-Dur-Flötenquartett entstanden, denn die autographe Partitur befand sich noch im 19. Jahrhundert im Besitz der Familie von Jacquin.
Wie immer, wenn er im Freundeskreis das Leben genoss, war Mozart zum Arbeiten aufgelegt. Im Sommer 1786 komponierte er drei bedeutende Kammermusiken: das Es-Dur-Klavierquartett KV 493, das G-Dur-Klaviertrio KV 496 und das „Kegelstatt-Trio“ KV 498. Zwischen Anfang Juni und Anfang August hat er sie in sein eigenhändiges Werkverzeichnis eingetragen. Das A-Dur-Flötenquartett fehlt, denn es enthält so viele Bearbeitungen fremder Werke, dass er es wohl nicht als eigene Komposition ausgeben wollte. Die Atmosphäre eines heiteren Sommers in der Wiener Vorstadt ist dem A-Dur-Quartett in jedem Satz anzuhören. Es besteht aus einem Variationensatz, einem Menuett und einem abschließenden Rondeau mit parodistischer Überschrift. Auf diese eigenartige Form konnte man sich lange Zeit keinen Reim machen, bis die Forscher herausfanden, dass Mozart hier Themen anderer Komponisten verarbeitet hat.
Ohne jeden Titel und ohne Tempoangabe beginnt das Autograph mit den Variationen in A-Dur. Deren Thema findet sich zwei Seiten später in Klaviernotation wieder, so als habe Mozart hier ein fremdes Klavierthema zunächst für Flöte und Streicher bearbeitet und dann mit Variationen versehen. Die ersten drei Takte des Themas stimmen mit dem Lied „An die Natur“ von Franz Anton Hoffmeister überein, das 1785 im Druck erschienen war, ebenfalls in der Tonart A-Dur. Offenbar benutzte ein unbekannter Bearbeiter, vielleicht Gottfried von Jacquin, Hoffmeisters melodischen Einfall, um daraus ein kompaktes Variationenthema zu formen. Mozart hat dieses Thema bei der Übertragung auf Flöte und Streicher bereits subtil verschönert und vier Variationen folgen lassen – ein Solo für jeden Mitspieler: Die Flöte verwandelt die Melodie in muntere Sprünge und Laufkaskaden, die Violine in ein brillantes Solo. Besonders ausdrucksvoll ist das Bratschensolo der dritten Variation, das Mozart möglicherweise für sich selbst geschrieben hat. Zum Marschrhythmus des Cellosolos wiederholt die Flöte das Thema, und damit ist der Satz schon zu Ende – keine Moll-Variation, keine Adagio-Variation, keine Coda. Ohne viel Aufhebens hat sich Mozart aus der Affäre gezogen. Die eineinhalb leeren Seiten, die er danach freiließ, lassen vermuten, dass er weitere Variationen schreiben wollte, wozu es aber nicht gekommen ist.
Für das Menuett in D-Dur hat sich bislang kein Vorbild finden lassen. Es ist im punktierten Rhythmus geschrieben, also „alla francese“. Das Thema des Trios geht auf ein schnelles französisches Volkslied aus der Normandie zurück: „Ah! il a des bottes, Bastien“. Mozart hat das Lied mit seinen plappernden Sechzehnteln auf die Flöte übertragen und nur den Takt geändert: vom geraden zum Dreiertakt.
Das Rondeau-Finale trägt als einziger Satz im Autograph eine Überschrift, und zwar eine parodistische. Die Satzbezeichnung „Rondeau“ ist zu „Rondieaoux“ verballhornt, und auf die Tempoangabe folgt eine ironische Erläuterung: „Allegretto grazioso, mà non troppo presto, però non troppo adagio. Così – così – con molto garbo, ed Espressione“, zu Deutsch: „Graziöses Allegretto, doch nicht zu schnell, aber auch nicht zu ruhig, mal so, mal so, mit viel Anmut und Ausdruck“. Der Adressat dieser Überschrift war sicher Mozarts Freund Jacquin, der als Flötist offenbar das Tempo nicht halten konnte und zum „ausdrucksvollen“ Spiel neigte. Als Vorlage verwendete Mozart hier eine Arie aus der Opera buffa „Le gare generose“ von Giovanni Paisiello. Beide Themen des Satzes stammen von dem großen Italiener aus Tarent. Mozart hat Paisiellos kleine Rondeau-Arie „Chi mi mostra, chi m’addita“ lediglich arrangiert und durch zwei zusätzliche Couplets auf die doppelte Länge ausgedehnt. Paisiellos neueste Opera buffa aus Neapel feierte am 1. September 1786 im Hofburgtheater Premiere und wurde bis 7. Dezember 1787 insgesamt 18 Mal gespielt – ein großer Erfolg, wie auch die Tagebucheinträge des Grafen Zinzendorf belegen. Mozart dürfte die Wiener Produktion bereits im September 1786 besucht und geschätzt haben, denn bei seinem Prager Besuch im folgenden Fasching hat er die Gelegenheit nicht versäumt, die Oper wieder zu hören: am 13. Januar mit der Prager Operntruppe. Sein Urteil fiel wenig schmeichelhaft aus, wie er Gottfried von Jacquin in einem Brief mitteilte. Mit der glänzenden Wiener Besetzung konnten die Prager nicht konkurrieren. Nancy Storace, die Prima Buffa der Wiener Hofoper und Mozarts erste Susanna, brillierte in der Rolle der Gelinda alias Dianina, einer neapolitanischen Dienerin im Hause des Mister Dull zu Boston. Besonders ihre kleine süße Auftrittsarie im zweiten Akt, „Chi mi mostra, chi m’addita“, hatte es den Wienern angetan. Dieses A-Dur-Stück in simpelster Rondeau-Form wurde sofort im Klavierauszug gedruckt. Seit Dorothea Link diese Ausgabe im Neudruck vorgelegt hat, kann man das Original mit Mozarts Bearbeitung vergleichen. Zunächst tat er nicht viel mehr, als die beiden schönen A-Dur-Themen in dialogischer Form auf Flöte und Streicher zu verteilen. Die ersten 28 Takte sind fast reiner Paisiello – von ein paar geänderten Noten in der Flöte und der raffinierteren Streicherbegleitung abgesehen. Dann aber entwickelte Mozart aus dem Rondeau-Thema ein neues Couplet in der Dominante E-Dur, wobei er das Thema durch die Stimmen führte und auch für die Rückleitung zur Grundtonart geschickt aufgliederte. Nach der Wiederholung der beiden Paisiello-Themen hat er sein neues Couplet noch einmal in D-Dur wiederholt und an den dritten Durchlauf des Themas eine eigene Coda angehängt. So formte er aus einer simplen Arie von 96 Takten ein kammermusikalisches Rondeau von 189 Takten.
Für die Wahl gerade dieser Paisiello-Arie waren mehrere Faktoren ausschlaggebend: ihre Popularität, der Umstand, dass Nancy Storace sie tanzend vortrug, und der Text: „Wer zeigt mir, wer sagt mir, wo mein Geliebter ist? Schenken möcht’ ich ihm mein Herz, das sich lebhaft im Busen regt.“ Wenn Gottfried von Jacquin dieses Thema auf seiner Flöte blies, muss er dabei eine Wiener Schönheit im Auge gehabt haben. Es könnte Gräfin Hortensia von Hatzfeldt gewesen sein, die sich von 1785 bis 1787 wieder einmal dauerhaft in Wien aufhielt. Als sie 1787 nach Bonn zurückkehrte, überreichte ihr Jacquin die sechs Notturni für drei Singstimmen und Klarinettentrio, die er gemeinsam mit seinem Lehrer Mozart verfasst hatte. Die Gräfin war als gefeierte Sängerin und Schauspielerin der Mittelpunkt der Wiener Adelstheater. Im März 1786 hatte sie im Palais Auersperg die Elettra in Mozarts „Idomeneo“ gesungen, eine Rolle, in der sie später auch den jungen Beethoven in ihren Bann ziehen sollte. In Wien war sie bekannt dafür, dass sie den Gesang von Nancy Storace perfekt imitieren konnte. Daraus ergibt sich eine Hypothese zur Entstehung des A-Dur-Flötenquartetts: Vielleicht hat Hortensia von Hatzfeldt an einem Sommerabend im Kreise der Jacquins Paisiellos „Chi mi mostra“ als Storace-Parodie aufgeführt, begleitet von Mozart am Klavier. Am selben Abend könnte sie auch Hoffmeisters Lied „An die Natur“ gesungen haben. Zur Erinnerung an diesen schönen Abend schrieb Mozart für seinen Freund Jacquin das A-Dur-Quartett – halb Arrangement, halb Neukomposition.
Karl Böhmer