“Les Folies d’Espagne”, aus Pièce de viole, II livre
Werkverzeichnisnummer: 1184
Marin Marais hatte – wie Kinobesucher seit Alain Corneaus Film Die siebente Saite wissen – mit Flöte oder Harfe nichts zu tun. Er war der bedeutendste Virtuose auf der Viola da gamba, die im Frankreich des Sonnenkönigs als das vornehmste Instrument galt. Neben hoch bedeutenden Opern hat er fast ausschließlich Musik für sein Instrument geschrieben. Um den Absatz seiner insgesamt fünf Bücher mit Pièces de viole zu steigern, ließ er jedoch Bearbeitungen für andere Instrumente wie Flöte oder Oboe zu, wenngleich dadurch viele idiomatische Schönheiten (akkordisches Spiel, Registerwechsel etc.) verloren gehen. Sein bekanntestes Stück, Les folies d’espagne, ist eine Folge von Variationen über das berühmte spanische Thema der Follia, erschienen 1701 in seinem 2. Gambenbuch.
Marin Marais muß nach dem Erfolg des Films Die siebente Saite nicht mehr vorgestellt werden. Der bedeutendste Gambist der Barockzeit ist durch das versteinerte Gesicht Gérard Depardieus Medienwirklichkeit geworden, was ihn uns so nahe gebracht hat wie kaum eine andere Gestalt aus dem absolutistischen Frankreich. In der Atmosphäre des Films spiegelte sich die Aura französischer Gambenmusik wider: ihre Intimität, eingefangen in den Gesichtern, ihre stille Intensität, der Landschaft vergleichbar. Über die spannungsgeladene Lehrer-Schüler-Beziehung, von der der Film erzählt, weiß man nur soviel, daß Marais tatsächlich vorübergehend des Sieur de Sainte-Colombe Schüler war. Der berühmte Lehrer soll das Verhältnis nach einem halben Jahr abgebrochen haben, weil er glaubte, Marais nichts mehr beibringen zu können. Dessen Virtuosität muß in der Tat früh entwickelt gewesen sein, denn mit 20 wurde er Mitglied des königlichen Orchesters, mit 23 Ordinaire de la chambre du roi pour la viole. Von da an bis zu seiner Pensionierung 1725 war Marais im Kammerensemble des Sonnenkönigs für das nach damaliger Auffassung vornehmste aller Instrumente zuständig. Darüberhinaus wurde er zu einem wichtigen Mitarbeiter Lullys, der ihm häufig die Leitung seiner Opern überließ.
Les Folies d’Espagne gehören zu Marais’ längsten Stücken. Es handelt sich um eine Variationenfolge über die berühmte Follia, die durch ihre einfache Harmonienfolge Musiker von den Improvisatori der Renaissance bis zu Rachmaninow immer wieder von neuem anzog. 1700, ein Jahr vor Marais, ließ Corelli seine Follia-Variationen für Violine und Basso continuo drucken. Vielen Hörern wird diese Version (besonders in der Blockflötenbearbeitung) vertraut sein, was zum Vergleich mit Marais herausfordert. Der Unterschied zwischen beiden ist der zwischen ihren Nationen: Corellis melodisch-virtuose Manier erscheint ebenso typisch für den “italienischen Gusto” wie Marais’ harmonisch-ornamentaler Ansatz für den “goût francais”.
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2006: “Les Folies d’espagn