Klaviertrio | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Volker David Kirchner

Klaviertrio

Trio für Violine, Violoncello und Klavier

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 1079

Satzbezeichnungen

1. Notturno (Schumann in Endenich…)

2. Amoretta (Eine Spieldosenmusik)

3. Golem . Delirando. Senza Tempo

4. La Malinconia

5. Chassidim

Erläuterungen

Ausgerechnet am Rosenmontag 1854 besiegelte Schumann in Düsseldorf sein Schicksal. Trotz aufmerksamer Bewachung durch seine besorgten Freunde gelang es dem schon geistig verwirrten Komponisten, bis auf die Rheinbrücke zu fliehen und mitten im Karnevalstrubel in den Fluss zu springen. Wenige Tage nach diesem in letzter Sekunde vereitelten Selbstmordversuch wurde er in die Nervenheilanstalt in Endenich bei Bonn eingeliefert, wo er bis zu seinem Tode 1856 blieb.

In den letzten Wochen vor dem Selbstmordversuch litt Schumann zunehmend unter Gehörhalluzinationen. Sie steigerten sich zwischen dem 10. und 17. Februar von Einzeltönen bis hin zu ganzen Musikstücken, wie das Tagebuch verrät: „Abends sehr starke und peinliche Gehöraffektion“ (10.2.), „Noch schlimmer, aber auch wunderbar“ (12.2.), „wunderbare Leiden“ (13.2.), „Gegen Abend sehr stark (wunderschöne Musik)“ (14.2.).

Jener Ton „E“, der Schumann auch später in der Klinik noch peinigte, eröffnet das Klaviertrio von Volker David Kirchner. Im ersten Satz entwickelt sich daraus ein gespenstisches Notturno mit dem Untertitel „Schumann in Endenich“- nicht der einzige Satz, der uns einen vereinsamten Komponisten in seiner „Zelle“ am Rande der Katastrophe zeigt. Das Trio enthält in seinem vierten Satz La Malinconia eine Hommage an Bartók, die die Melancholie im leeren New Yorker Appartment des Komponisten beschwört.

Insgesamt verstand Kirchner selbst das fünfsätzige Trio als „Prozession musikalischer Traumbilder, in denen musikalische Tradition zum Gradmesser für innere Zustände und deren Beschreibung wird. Die den einzelnen Sätzen zugeordneten Untertitel sind Verweise auf die jeweils assoziierten Komponisten oder Stilmittel, nicht aber Hinweise auf bestimmte Kompositionen oder gar Themen“, so Kirchner.

Das einleitende Notturno geht, wie gesagt, von jenem Ton E aus, den der geistig verwirrte Schumann in der Endenicher Klinik hörte und aus dem heraus er die Musik des Himmels wahrzunehmen glaubte. Kirchners Satz läßt diese schumannschen Hörvisionen einschließlich ihrer dämonisch bedrohlichen Elemente klangliche Wirklichkeit werden. Auf die leise, melodiöse Spieldosenmusik der Amoretta folgt die Vorstellung des Golems, jenes sagenumwobenen Kunstmenschen, den die Juden im Mittelalter mit kabbalistischen Methoden zum Leben erwecken wollten. In Kirchners Trio ersteht er in Form eines Clusters vor dem Hörer, entfaltet ein furchterregendes Leben und sinkt mit einem weiteren Cluster wieder in sich zusammen. Nach dem Bartók-Bild des vierten Satzes beendet der religiöse Tanz der Chassidim, der frommen Juden, in den sich Motive des ersten Satzes mischen, das Stück.

2007:
So rasch wie die meisten Klaviertrios von Joseph Haydn kommen moderne Trios in der Regel nicht auf den Markt. Bis ein Werk von den Interpreten uraufgeführt wurde, bis die Verlagskorrektur durchgeführt ist, vergehen nach Abschluss der Komposition meistens Monate – und manchmal Jahre. Der Mainzer Komponist Volker David Kirchner vollendete sein 2. Klaviertrio bereits 2004. Dennoch wird es erst in den beiden Konzerten dieser kleinen Serie in Meisenheim und Mainz uraufgeführt. Äußere Umstände haben diese Verzögerung bewirkt. Dem Komponisten bescherten sie die unverhoffte Wiederbegegnung mit einem Werk, das schon ganz aus seinem Blickfeld gerückt war, wie Kirchner eingestand:

„Das Stück ist ja schon drei Jahre alt. Zu meiner Überraschung habe ich beim erneuten Lesen festgestellt, dass es einen Untertitel trägt: „Versunkene Orte“. Ich habe mit diesem Titel an einen Begriff von Ernst Bloch anknüpfen wollen: das -Abgebrochene des Vergangenen‘. Das, was zurück bleibt, ist damit gemeint: was in den verschiedenen Zeitschichten nicht zu Ende geführt wurde und was in einem weiter arbeitet, woraus dann die Bezugspunkte zur Vergangenheit entstehen. All dies spielt in diesen „Versunkenen Orten“ mit. In sehr weiter Entfernung handelt es sich um Topoi aus der Geschichte der Gattung Klaviertrio, die man aber nicht mehr als solche erkennen kann.“

Was sich sonst zu dem Werk sagen lässt, sei eher allgemeiner Art, meinte der Komponist: „Es ist ein verhältnismäßig langes Stück. Vom äußeren Ablauf her hat es überhaupt nichts mit klassischer Form zu tun. Die Form ist vielmehr offen – nach vorne wie nach hinten. Es hat drei Teile, die aber als Sätze nicht in Erscheinung treten. Andererseits handelt es sich um ein sehr polyphones Stück. Verschachtelungen und Querverweise der Motive sind bis in die letzte Konsequenz ausgearbeitet. Permanent kommen klassische Verarbeitungstechniken des Kontrapunkts zum Einsatz: Umkehrung, Krebs, Engführung etc., und zwar oft in rasend schneller Bewegung. Es gibt sehr viele bewegte Abschnitte, die von dieser permanenten Mutation der Motive leben. Über diese schnellen Passagen müsste man eigentlich Delirando schreiben, so atemlos und gehetzt sind sie. Dem stehen schwebende Melodien gegenüber, die sich quasi im ewigen Schnee bewegen: in sehr großer Höhe und in weiten Lagen. Darunter hört man Fetzen, die von den rasend schnellen Bewegungen übrig geblieben sind. Schließlich gibt es auch die für mich typischen Momente, in denen die Musik quasi in Melancholie versinkt, wenn sehr schnelle Verläufe in der drei- oder vierfachen Vergrößerung plötzlich erstarren.“

Der Aufbau folgt einem bei Kirchner geläufigen Modell: Das Stück beginnt langsam und zart (con Tenerezza) in einer Art „Fernklang“ (da lontano). Am Ende fällt es wieder in Ruhe
und Fernklang zurück (Lento da lontano). Einleitung und Coda bilden gewissermaßen den Prolog und Epilog des Stückes, während der Hauptteil aus dem schon beschriebenen Wechsel zwischen sehr schnellen, wilden Auftürmungen des Klangs und ruhigen Einwürfen besteht. Erstere sind Animato (Bewegt) zu spielen, letztere Molto lento e tenuto (Sehr langsam und gehalten).

Von besonderen Interesse war für den Komponisten der Zusammenklang zwischen Klavier und Streichern: „Tschaikowsky hatte nicht ganz unrecht, als er sagte, dass die Kombination des Klaviers mit Geige und Cello fürs Ohr letztlich unbefriedigend bleibt. Deshalb habe ich mich bemüht, den Klavierklang so weit wie möglich zu verfremden und den Streichern anzunähern, etwa dadurch, dass der Pianist in die Saiten greift oder die Tasten mit dem Arm herunterdrückt. Dadurch imitiert er das Pizzicato der Streicher. Ich behandele das Klavier also radikal anders und auch total, das heißt ich spiele mit allen technischen Möglichkeiten, besondere Klänge zu erzeugen. Da gibt es diese Momente, wo der Pianist bei gedrücktem Haltepedal das Dämpfungspedal plötzlich los lässt, was regelrechte Schläge im Klavier erzeugt. Darauf habe ich Wert gelegt: auf Klänge und Farbmischungen, die vom Gängigen abweichen. Trotzdem ist das Wichtigste für mich immer das innere Singen, das Atmen. Trotz aller Verschachtelungen im Kontrapunkt und aller Verfremdungen im Klang hat auch dieses Stück große innere Bögen.“

Der Komponist dieser atmosphärisch dichten, „singenden“ Musik konnte vor wenigen Monaten seinen 65. Geburtstag feiern. Aus diesem Anlass wurde ihm in der Villa Musica die Peter Cornelius-Plakette, die höchste musikalische Auszeichnung des Landes Rheinland-Pfalz, überreicht. Als geborener Mainzer, ehemaliger Orchesterbratscher unter Günther Kehr, Quartettkollege von Ulf Hoelscher, Mitglied im Künstlerischen Beirat der Villa Musica Rheinland-Pfalz und Kunstpreisträger des Landes ist Kirchner seiner Heimat auf vielfältige Weise verbunden. Die meisten seiner Werke im zurück liegenden Jahrzehnt schrieb er in der Villa Musica, wo man ihn für gewöhnlich in seiner „Komponierstube“ im ersten Stock antreffen kann. Dort entstanden u.a. neun seiner bislang zehn Streichquartette, sein Streichtrio, Streichquintett und ein Streichsextett – natürlich auch das 2. Klaviertrio.