Varied Air and Variations | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Charles Ives

Varied Air and Variations

Varied Air and Variations Study #2 for Ears or Aural and Mental Exercise

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer:

Erläuterung

Charles Ives, der Nestor der Neuen Musik Nordamerikas, war Komponist nur im Nebenberuf: Im bürgerlichen Leben arbeitete er als Versicherungsagent, einer der bedeutendsten Amerikas, der schon damals – wie Präsident Obama heute – auf eine gesetzliche Krankenversicherung in den USA hinwirkte. Komponiert hat er nur in seiner Freizeit, dabei hatte der in Connecticut geborene Charles schon von seinem Vater, einem ehemaligen „Band Master“ in der Nordstaaten-Armee, eine gründliche musikalische Ausbildung erhalten. Von ihm erbte er auch die Neigung zum Experimentieren, z. B. mit Collagetechniken und Polytonalität, die seine Musik auszeichnen. So begann der junge Charles schon mit 12 zu komponieren und in der Band seines Vaters Schlagzeug zu spielen, mit 14 war er der jüngste bezahlte Organist im Bundesstaat. 1894-98 studierte er dann an Yale University, wobei er sich mehr durch seine Kompositionen als durch seinen Studieneifer hervortat.

Die „Gatherings“ diverser Blasorchester, die im Neu-England seiner Jugend unter freiem Himmel in verschiedenen Tonarten gleichzeitig spielten, prägten sich ihm tief ins Gedächtnis ein. „Ives, müssen sie den alle Tonarten gleichzeitig benutzen?“ fragte ihn verzweifelt sein Professor für Harmonielehre an der Yale University. Freilich war der junge Charles ein ebenso guter Sportler wie Musiker und hätte auch ein Top-Sprinter werden können. Letztlich entschied er sich für den Brotberuf des Versicherungsagenten, der ihm genügend Freiraum ließ, um in seiner Freizeit das Tor zur Neuen Musik in den USA weit aufzustoßen. „Vielleicht ist Musik gar nicht dazu da, dem seltsamen Drang des Menschen nach Klarheit zu genügen. Vielleicht ist es richtiger zu hoffen, dass Musik immer eine transzendierende Sprache im maßlosesten Sinne des Wortes sein möge.“

1925 verfasste Ives ein provokantes Klavierstück von sieben Minuten Länge, das er erst 22 Jahre später veröffentlichte und noch einmal zwei Jahrzehnte später öffentlich aufführen ließ. Der Untertitel dieser Varied Air and Variations lautet seltsam genug:

Study #2 for Ears or
Aural and Mental Exercise

Studie Nr. 2 für Ohren oder
Hör- und Bewusstseinsübung

Das Stück besteht aus einer Folge mehr oder weniger klassischer Variationen über ein Thema, die immer wieder in Clustern oder anderen provokanten Dissonanzen kulminieren, was jeweils den Protest des Publikums hervorruft. Diesen hat Ives mit einkomponiert und so die Situation zeitgenössischer Musik im klassischen Klavierabend selbst zum Thema gemacht. Das Publikum, wie er es seinerzeit in den USA erlebte, wird als gnadenlos konservativ dargestellt – ja beinahe bloßgestellt.

Der erste Protest, noch leise und vage, ist ein Murmeln im Publikum, wenn der Pianist die Bühne betritt, ein Largo mit leisen Dissonanzen über einer großen None im Bass. Noch ungestört kann der Pianist daraufhin das Thema spielen, das – ganz nach der Art amerikanischer Klaviermusik jener Epoche – einen Gebirgszug darstellen soll, eine Felsformation (im Zweifel ist damit der West Rock Mountain in Connecticut gemeint, der Heimat des Komponisten).

Schon gegen das Thema regt sich ein erster, zaghafter Protest, ein leises Murmeln, das sich unmittelbar anschließt. Dieser Protest kehrt am Ende der ersten Variation leicht verändert wieder. Die Variation selbst, Allegro moderato bzw. Andante con spirito zu spielen, bringt das Fanfarenthema im Bass und lässt die Zuschauer neue Blicke auf die imaginäre Felsformation werfen.

Die zweite Variation ist ein rascher Marsch, zugleich eine Studie im strengen, umkehrbaren Kontrapunkt, freilich noch so konsonant, dass auch hier der Protest im Rahmen bleibt. Ganz anders nach der dritten Variation: Sie greift den Marschduktus auf, der Kontrapunkt besteht dieses Mal aber in Imitationen mit diversen Intervallabständen, die Rhythmen werden immer kleiner, die Musik wird beschleunigt und gipfelt in einem Cluster von sieben Sechzehntelnoten. Nun protestiert das Publikum schon deutlicher, seine stärkste Reaktion folgt aber auf die vierte Variation. In ihr beschränkt sich der Pianist auf einen mustergültigen vierstimmigen Satz in reinem Dur-Moll. „All right, Ladies, jetzt werde ich euch das Felsenthema noch einmal spielen, aber niedlich und sauber harmonisiert.“ Begeistert schreit das Publikum sein Bravo heraus, einen C-Dur-Akkord im zwölffachen Forte!

Variation V nimmt groteske Züge an: Der Pianist „wird wahnsinnig und beginnt, mit Gegenständen zu werfen.“ Die Variation soll „schneller als jemals oder als möglich“ gespielt werden. Auch dieses Mal folgt der Protest des Publikums, das dem Pianisten am Ende keinen Applaus zollt. Ives’ bittere Empfehlung: „He ought to be polite for he will not be engaged and paid at the next nice afternoon TEA concert!“ Der Pianist solle besser höflich sein, denn er werde sicher zum nächsten Nachmittagsteekonzert nicht mehr eingeladen!