Trio élégiaque Nr. 2 d-Moll, op. 9 | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Sergej Rachmaninow

Trio élégiaque Nr. 2 d-Moll, op. 9

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 4256

Satzbezeichnungen

1. Moderato – Allegro vivace

2. Quasi variazione

3. Allegro risoluto – Moderato

Erläuterungen

Sergej Rachmaninow
Trio élégiaque Nr. 2 d-Moll, op. 9

Seit Michail Glinka 1832 sein Trio pathétique geschrieben hatte, war es eine Eigenart der russischen Romantiker, Kammermusik mit elegischem Inhalt zu füllen: Totenklagen durchziehen das Genre bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, insbesondere in der Gattung Klaviertrio. Tschaikowsky verlieh dieser Tradition den monumentalsten Ausdruck, als er 1882 zum Gedenken an seinen unerwartet verstorbenen Musikerfreund Nikolaj Rubinstein sein Klaviertrio a-Moll komponierte. À la memoire d’un grande artiste lautet die berühmte Widmung dieses bis dahin längsten russischen Kammermusikstücks.

Nur elf Jahre später hatte die russische Musikwelt einen noch tragischeren Todesfall zu beklagen: Tschaikowsky selbst starb völlig unerwartet im Alter von 53 Jahren an der Cholera (oder an Selbstmord, wenn man einem schon damals aufgekommenen Gerücht Glauben schenken will). Alle Komponisten des Landes, besonders aber die Absolventen des St. Petersburger Konservatoriums, waren angesichts der Schreckensnachricht wie versteinert. Viele drückten ihren Schmerz in einer komponierten Totenklage, einem „panikhida“ aus, so auch der zwanzigjährige Sergej Rachmaninow.

Noch am Todestag, dem 6. November 1893, begann er mit der Komposition seines Trio élégiaque Nr. 2 in d-Moll, das er, Tschaikowsky zitierend, dessen Andenken widmete: À la memoire d’un grande artiste.

Um die Dramatik der Ereignisse zu verstehen, muss man sich die letzten Tage im Leben Tschaikowskys ins Gedächtnis rufen. Am 1. November, vier Tage nach der umjubelten Uraufführung seiner 6. Sinfonie, der Pathétique, hatte er im Restaurant Leitner in St. Petersburg ein Glas mit nicht abgekochtem Wasser getrunken und war gleich am Tag danach erkrankt. Am 5. November war der Zustand des Patienten so kritisch geworden, dass sein Bruder Modest an der Tür seiner Wohnung aktuelle Krankenberichte aushängte, um die drängenden Fragen der vielen besorgten Freunde und Bewunderer zu beantworten. In der folgenden Nacht, am 6. November um 3 Uhr früh, starb Tschaikowsky. Noch am selben Tag wusste die ganze Stadt davon, und die St. Petersburger Nachrichten berichteten im Leitartikel ihrer nächsten Ausgabe: „In der Stadt kursieren die widersprüchlichsten Gerüchte sowohl hinsichtlich der Ursache von P.I. Tschaikowskys Krankheit als auch seines Todes.“

Schon damals munkelte man, der Komponist sei wegen seiner erotischen Beziehungen zu einem Neffen des Zaren zum Selbstmord gezwungen worden. Das Gerücht vom Selbstmord erhielt neue Nahrung, als das Begräbnis gegen alle strengen Vorschriften, die für die Bestattung von Choleraopfern erlassen worden waren, öffentlich und ohne jede Abschottung der Leiche stattfanden.

In diese aufgewühlte Stimmung hinein schrieb Rachmaninow sein Trio. In seiner ungehemmten Emotionalität, mit seiner monumentalen Spieldauer von 45 Minuten und seinen breit angelegten Variationen wurde es ein würdiger Nachfolger des Tschaikowsky-Trios. Vor allem fasziniert daran der Ton rückhaltloser Trauer, eine bis zur Verzweiflung sich steigernde Klage, die jede Phrase zum Bekenntnis werden lässt. „Während ich daran arbeitete“, so gestand der junge Komponist in einem Brief seiner Cousine Nathalia Skalon, „widmete ich all meine Gedanken, all meine Kraft diesem Stück; … ich zitterte bei jeder Phrase, strich manchmal alles wieder aus und begann von Neuem.“

Der Komponist dieser hoch expressiven Musik hatte zwei Jahre zuvor das Klavierexamen am Konservatorium glanzvoll hinter sich gebracht und 1893 die Kompositionsprüfung mit dem Operneinakter Aleko nach Puschkin so makellos bestanden, dass man nicht umhin konnte, ihm die Große Goldmedaille des Instituts zu verleihen – ein Prädikat, das so gut wie nie vergeben wurde. Auch sein erstes Klavierkonzert und sein notorisches cis-Moll-Prélude hatte Rachmaninow damals schon geschrieben. Die Zeitgenossen waren konsterniert angesichts des jungen Genies, das hier heranreifte, allen voran Tschaikowsky. Er fand die Erstlingsoper Aleko so beeindruckend, dass er den jungen Mann großherzig förderte, und rühmte besonders dessen zweite sinfonische Dichtung Der Fels nach Lermontov für ihre Farbigkeit.

Vor dem Hintergrund dieser ersten Meisterwerke wird auch der zerklüftete Aufbau des zweiten Klaviertrios verständlich. Alles daran wirkt wie hoch emotionalisierte Programm-musik im Stile einer „Sinfonischen Dichtung“. Die Uraufführung spielte Rachmaninow im Januar 1894 mit dem Geiger Iouli Konius und dem Cellisten Anatolj Brandukow, dem damals berühmtesten russischen Virtuosen, für den er zehn Jahre später seine Cellosonate schreiben sollte. Dem Violoncello ist auch im Trio eine besonders dankbare Rolle zugewiesen. Die Geige tritt dagegen fast in den Hintergrund. Dem Geiger Nathan Milstein stellte Rachmaninow später einmal die provokante Frage: „Warum sollte ich für die Geige komponieren, wo es doch das Cello gibt?“
Der erste Satz gliedert sich in vier große Teile. Die langsame Einleitung, Moderato, wirkt wie ein Lamento auf den verstorbenen Tschaikowsky: Düstere Klavierakkorde umkleiden die fünf absteigenden Halbtöne einer chromatischen Skala, die den Abschnitt wie eine Lamento-Geste unablässig durchzieht. Darüber stimmt das Cello einen klagenden Gesang an, der zunächst um die Mollterz kreist und dann immer weiter ausgreift. Im Zwiegesang der Streicher steigert sich die Klage, bis das Klavier auf dem Höhepunkt die Führung an sich reißt und das chromatische Motiv zu einem Gefühlsausbruch von unerwarteter Heftigkeit steigert. Eine kurze Klavierkadenz und ein Rezitativ des Cellos bilden den resignativen Schluss der Einleitung.

Das Allegro vivace beginnt mit überraschenden Themen-Metamorphosen: Das chromatische Motiv aus der Einleitung wird auf den gezupften Saiten der Geige zur Begleitung. Cello und Klavier teilen sich das Hauptthema, das um den Terzdurchgang f-e-d kreist. Dieses Dreitonmotiv kommt zunächst zart und tänzerisch daher, verwandelt sich aber urplötzlich in hämmernde Klavierakkorde, während die Streicher in wildes, orchestrales Tremolo ausbrechen. In mächtigem Akkordsatz steigert das Klavier das Terzmotiv zu einer Art orthodoxem Choral, von schäumenden Tremoli begleitet. Wir scheinen uns mitten im Kopfsatz eines Klavierkonzerts zu befinden, so raumgreifend und klangvoll gebärden sich alle drei Instrumente. Erst im Seitenthema (Maestoso) kehrt die Aura zarter Kammermusik zurück. Erneut verwandelt sich das Terzmotiv, dieses Mal in einen seligen Gesang der beiden Streicher, der wie eine Apotheose in himmlische Höhen aufsteigen will, bevor er vom chromatischen Motiv brutal in die Wirklichkeit zurückgestoßen wird (Presto). Später greift auch das Klavier den träumerischen Gestus des Seitenthemas auf (Meno mosso). Sein himmlischer Gesang mündet erneut in die Reprise des chromatischen Lamentomotivs.

An dieser Stelle setzt unvermutet heftig die Durchführung ein (sempre più vivo e agitato). Die chromatische Skala, von der linken Hand in unerbittlich hämmernde Bässe verwandelt, beherrscht die gespenstische Szene. Wieder wird beinahe die Klangfülle eines Klavierkonzerts erreicht. Eine kurze, wilde Kadenz des Klaviers (Allegro molto) krönt diesen Ausbruch von Verzweiflung. Danach sackt die Bewegung in sich zusammen. Ein weinendes Motiv der beiden Streicher hebt an (Lamento – Moderato). Wie gemalte Tränen wirken ihre klagenden Terzen. Dazu erklingt ein ruhiger Gesang des Klaviers, der nichts anderes ist als das Thema der langsamen Einleitung, nun vom Klavier statt von den Streichern gespielt. Wir befinden uns mitten in der Reprise der Themen.

An die Reprise der Einleitung schließt sich die des Allegro an. Das Hauptthema verläuft zunächst in vertrauten Bahnen, mündet dann aber in einen neuerlichen Ausbruch von unkontrollierter Heftigkeit. Der Choral des Klaviers wird von Tremolowellen förmlich überflutet. Die aufgestaute Spannung löst sich erst wieder im hohen, lichten Gesang des Seitenthemas. Diesmal steigen die beiden Streicher noch höher in den Himmel hinauf. Erst ganz am Ende wendet sich ihr melodischer Bogen voller Resignation hinab in die Tiefe. Gleichzeitig erklimmen die ätherischen Arpeggi des Klaviers höchste Lagen – so als habe Rachmaninow zeigen wollen, wie Tschaikowskys Seele im Moment seines Sterbens dem Himmel zustrebte. Vielleicht hatte er die letzten Zeilen aus jenem Zeitungsbericht im Sinn, den Modest Tschaikowsky über das Sterben seines Bruders veröffentlicht hatte: „Mit einem Mal taten seine Augen, die bis dahin glasig und halb geschlossen waren, sich weit auf. Ein unbeschreiblicher Ausdruck des vollsten Bewusstseins erschien. Sein Blick ruhte nacheinander auf den drei Menschen, die ihm zur Seite standen, und richtete sich dann zum Himmel. Für einen kurzen Moment erstrahlten seine Augen, dann erloschen sie mit seinem letzten Atemzug.“

Für den zweiten Satz, Quasi variazione, nahm sich Rachmaninow unverkennbar den gewaltigen Variationensatz aus dem Tschaikowsky-Trio zum Vorbild. Jede der acht Variationen bewegt sich in ihrer eigenen Klang- und Ausdruckswelt. Sie wirken wie ein Zyklus von acht Charakterstücken, die über das gemeinsame Thema eher lose miteinander verbunden sind. Mit der Wahl des Themas spielte der junge Komponist auf den Verstorbenen an: Es stammt aus Rachmaninows sinfonischer Dichtung Der Fels, die Tschaikowsky so besonders geschätzt hatte. Vorgestellt wird es vom Klavier alleine – als Choral im schlichten Akkordsatz (Andante). Vom Trio der Instrumente wird es zunächst in ein schummaneskes Allegro verwandelt (1. Variation), bevor es wieder ins solistische Klavier zurückwandert und dort zu einem feierlichen Lento gesteigert wird (2. Variation). Die 3. Variation ist ein sich wirbelnd drehendes Allegro scherzando des Klaviers zum Klang der gezupften Saiten. Die 4. Variation (Moderato) wird von Oktaven der Streicher er-wartungsvoll eröffnet. Über ihren liegenden Klängen intoniert das Klavier wie ein imaginärer Chor aus hohen Singstimmen einen kirchlichen Hymnus. In der
5. Variation bereiten flirrende Tremoli der Geige und sanft aufsteigende Klavierakkorde den Boden für einen Klagegesang des Cellos in hoher Lage. Chromatische Skalen des Klaviers mischen sich ins Bild und rufen nicht zufällig die langsame Einleitung des ersten Satzes in Erinnerung (L’istesso tempo). Festliche Glockentöne des Klaviers läuten die 6. Variation ein (Allegro vivace). In der 7. Variation (Andante) sind es Grabesklänge des Klaviers, die zur düsteren Stimmung der Grundtonart d-Moll zurückführen. Die Streicher steuern zaghafte Duetteinwürfe bei. Erst in der finalen 8. Variation (Moderato) steigert sich ihr Duett zu einem leidenschaftlichen Zwiegesang, der im Ton eines versöhnlichen Gebets endet.

Wild zerklüftet beginnt das Klavier den Finalsatz, ein Allegro risoluto, das keinen Hoffnungsschimmer von erlösendem Dur aufscheinen lässt. Mit einem langen, klagenden Ton weisen die Streicher das Klavier in die Schranken und rufen den Trauergestus des Kopfsatzes zurück. Im Widerstreit zwischen dem resoluten Klavier und den klagenden Streichern durchläuft der Satz eine kämpferische Entwicklung, die sich auf unerwartete Weise löst: Die langsame Einleitung des ersten Satzes kehrt zurück und mit ihr der Lamento-Ton. Am Ende sinkt die Musik förmlich ins Grab hinab.