Acht Chöre nach Deszö Tandori, op. 23 | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

György Kurtág

Acht Chöre nach Deszö Tandori, op. 23

Acht Chöre nach Dezsö Tandori, op. 23

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 3708

Satzbezeichnungen

I Drei Koans

1. Koan III

2. Koan I

3. Koan II

II Zukünftiges will ich nur noch

1. Koan Belcanto

2. T.S.Eliot-Münze

III Drei Selbstporträts

1. Versumpfe schon

2. Prinz H., vor seinem Stiefvater

3. Selbstporträt von 1965

Erläuterungen

2005 Rhein Vokal

Über György Kurtág

Er bezeichnet sich selbst als Komponist, Pianist und Kammermusiklehrer. 1926 wird er in Lugoj geboren, das damals zu Ungarn und heute zu Rumänien gehört. Er geht an die Budapester Musikakademie, in der Hoffnung, dort eines Tages bei dem verehrten Béla Bartók studieren zu können (es hieß, dieser werde aus dem amerikanischen Exil bald in die Heimat zurückkehren). Am Tage der Aufnahmeprüfung wird die Nachricht vom Tode Bartóks bekannt. Kurtág studiert Klavier, Komposition und Kammermusik, u.a. bei Ferenc Farkas und Sandor Veress. Er verbringt ein Jahr in Paris und besucht dort Kompositions- und Analysekurse bei Olivier Messiaen und Darius Milhaud und studiert die Werke Anton Weberns. Viel größeren Einfluß auf seine Entwicklung übt jedoch die Arbeit mit Marianne Stein aus, einer auf Künstlertherapie spezialisierten Psychologin, durch die er auf mühevollem Weg zu seiner eigenen Musiksprache findet. Er beginnt als 36jähriger noch einmal ganz von vorne, zieht alle bisherigen Kompositionen zurück und nennt sein nächstes Werk, ein Streichquartett, sein Opus 1. Er kehrt nach Ungarn zurück, wo die Uraufführung seines op. 1 eine Sensation bedeutet – es ist die erste ungarische Komposition, die die westeuropäischen Entwicklungen der 1950-er Jahre in eigenständiger Weise assimiliert.

In den nächsten fünfzehn Jahren komponiert Kurtág kaum mehr als 100 Minuten Musik, zumeist Zyklen kurzer Stücke (viele davon für Singstimme), die sich durch große Konzentration und Intensität auszeichnen. Kurtágs Komponieren unterliegt einem sehr langsamen und selbstkritischen Prozess, immer in dem Bemühen, jeden musikalischen Moment so präzise und intensiv als nur irgend möglich zu fassen und von allem Überflüssigen zu befreien.
Obwohl seine Werke in den siebziger Jahren vereinzelt in Deutschland aufgeführt werden, wird ihm das, was man gemeinhin als „internationalen Durchbruch“ bezeichnet, erst in den 80er Jahren zuteil – da ist Kurtág 55 Jahre alt. Heute gilt der zweite ungarische Ernst-von-Siemens-MusikpreisEmpfänger neben György Ligeti als der einflussreichste Komponist seines Landes.

Omaggio a Luigi Nono op. 16

Als Luigi Nono im Jahre 1979 mit dem Streichquartett „Stille – an Diotima“ musikalisch wahr macht, was zuvor in dieser Radikalität nicht denkbar war, finden sich mit einem Mal viele Komponisten-Kollegen, die dieser Fermatenmusik, diesem mit unendlichem Atem und Großzeitigkeit ausgestatteten Werk nachahmend huldigen.

Während der fast dreijährigen Entstehungsphase dieses Werkes begegnen sich in Berlin György Kurtág und Luigi Nono, beide auf der Suche nach einer neuen Einbeziehung von Stille und kontemplativer Kraft in ihre Musik: intensive Gespräche sind der Beginn ihrer Freundschaft.

György Kurtágs Omaggio a Luigi Nono ist eines der Beispiele, in welchem die Fermatentechnik, über die Nono damals sicherlich sprach, die Behandlung von klingender Stille, Einzug fand ins Eigengemachte, in die Welt fragmentierter Kürze und assoziativer Folkloristik. Dehnung der Klänge, Verweilen im Ausklang auf der einen Seite, auf der anderen Seite Extreme in der Dynamik im Verbund mit Resten melodiöser Erinnerung an die Fundamente großer tonaler Musik.

Kurtágs Kurzgliedrigkeit in den einzelnen Motiven in Verbindung mit der Nono’schen Großflächigkeit macht aus diesem a-cappella-Werk eine extrem schwierige Vokalkomposition, weil die komplexe Akkordik hohe Anforderungen an die Intonation stellt und an die Flexibilität der Stimmen, weil immer wieder plötzliche, agile Partien komplementär zu den Klanghorizonten gesetzt sind.

Die sechs Teile des Werks transportieren einerseits kurzsilbige russische Texte, andererseits knappe lyrische Momente der in Ungarn lebenden russischen Dichterin Rimma Dalos. Diese wiederum bezieht sich auf Paulus-Briefe mit ihrem endzeitlichen und zugleich die Liebe beschwörenden Inhalt.
Kurtágs Formenreichtum wird in diesen sechs Chorteilen explizit: Kanonartige Beziehungen der Stimmen, Unisonolinien durch den Klangraum, Ligaturen auf engstem Terrain, agitatorische Einschübe als deklamatorische Virtuosität und repetitives Auf-der-Stelle-treten.

Vielleicht am ergreifendsten intoniert Kurtág das Thema vergeblicher Liebe im zweiten Teil, welcher sich eines düsteren Textes der russischen Dichterin Anna Achmatowa annimmt. Verfall der Melodie, Zerbrechen von Zusammenhängen, Zerdehnen von vokalen Gesten, Reibungen mittels parallel gesetzter Kleinsekunden, die schließlich in bitonale Akkorde explodieren.

Acht Chöre zu Gedichten von Dezsö Tandori op. 23

Unverkennbar ist die einflussreiche Begegnung mit Luigi Nono auch in dieser Komposition. Der erste Chor beginnt mit drei Frauenstimmen, deren harmonisches – oder besser intervallisches – Gefüge an den Italiener erinnert. Aber auch die Ligaturtechnik und die extreme Zartheit der Tongebung durch ein sechsfaches Piano winken dem Freund zu. Dann aber behauptet sich die für Kurtág typische Diktion: der Vokalsprache durch Berührungen konsonanter Intervalle mit dissonanten Verdichtungen eine schwebende Dimension zu verleihen.

Aus den Keimzellen der Sopranintervalle entwickelt sich im sich direkt anschließenden zweiten Chor ein vielschichtiges Spiel aller Stimmgruppen, die im dritten Chor an der mehrdimensionalen Aufbrechung von Klangräumen mitwirken. Schon der vierte Chor – obschon sein lyrischer Gegenstand in sanftmütiger Gelassenheit das Zukünftige aus der Vergangenheit herholt – setzt den ersten drei eine völlig andere Diktion entgegen: Plötzlich nisten sich geräuschimitierende Momente ein in die archaische Akkordik. Eine reine Quint wird gegen Ende durch virtuose Figuren irritiert. Im fünften Chor schwimmt der homophone Klang in instabiler Zeit, die Kurtág durch seine taktstrichlose Notierung erreicht.

Der sechste Chor arbeitet auf völlig unkonventionelle und radikal freiheitliche Weise mit den Lastern und Tugenden alter polyphoner und kontrapunktischer Methoden, schichtet sie in collagierender Weise in- und übereinander, so dass eine neue Dimension von Polyphonie entsteht. Beindruckend schlicht verhalten sich die Soprane und Bässe als stützende Basisintervalle für die deklamierende Tenoraktion innerhalb des siebten Chores. Tandoris verschlüsselter Reflexionstext, ein Hamletmonolog als Selbstporträt, schwankt im Harmonieraum ohne festen Halt. Der letzte Chor intoniert im „Selbstporträt von 1965“ zweierlei: die zerrissene Bildsprache Tandoris und die satirische Beleuchtung des eigenen Ich. Kurtág übersetzt diese Textur ins Virtuose – mit bizarren, ja grotesk schneidenden, sich gegenseitig jagenden Vokalfloskeln, deren hohes Tempo die Artikulationsvielfalt nahezu verschluckt und auslöscht.

Insgesamt liegen die sängerischen Schwierigkeiten dieses Zyklus in den rasch aufeinanderfolgenden Gegensätzen vokaler Stimmungen und in der Überlagerungstechnik heterogener Klangwelten. Wohl deshalb ist seit der Uraufführung im Jahre 1984 durch die BBC Singers kaum mehr eine Aufführung zustande gekommen. Marcus Creed und das SWR Vokalensemble Stuttgart haben zusammen mit György Kurtág die beiden Vokalkompositionen für dieses Konzert und für eine Produktion zurückerobert.

Hans-Peter Jahn-Bossert